Irland Demokratie-Experiment im Losverfahren
Irland – ein idyllischer Flecken Europas. Hier wird nichts weniger als die Demokratie revolutioniert.
Was das heißt, kann Finbarr O’Brien erklären. Er ist Postbote, 62 Jahre. Politiker waren für ihn sein Leben lang "die da oben":
"Oh nein, ich hatte keine Ahnung von Politik, hatte null Interesse, bis man mich ansprach, ob ich Mitglied einer Bürgerversammlung sein wolle."
Finbarr O’Brien, Mitglied Bürgerversammlung 2014
Die Bürgerversammlung regelt Irlands Zukunft. Vor drei Jahren sollte Finbarr mitentscheiden, ob Irland die Homo-Ehe einführt, ausgerechnet er!
"Ihr habt schon von pädophilen Priestern gehört? So was ist mir als Kind passiert. Seit ich missbraucht wurde, dachte ich: Homosexuelle sind alle gleich: brutal – egal ob Pädophile, Schwule oder Lesben. Alle gleich. Ich hasste und verachtete sie."
Finbarr O’Brien, Mitglied Bürgerversammlung 2014
In diesem Hotel bei Dublin geschieht seit einiger Zeit dieses „Bürger-Demokratie-Experiment“. Hier tagt Irlands vierte Bürgerversammlung. Finbarr war bei der ersten 2014 dabei. Das Besondere: 99 Iren machen ein Jahr lang Politik – normale Bürger: Junge, Alte, Akademiker, Bauern – und sogar ein Türsteher; alle zufällig ausgewählt per Los, auch David Keogh, ein LKW-Fahrer.
"Normalerweise liest Du nur die Zeitungen und erfährst, was schon entschieden wurde. Aber hier in der Bürgerversammlung bekomme ich den gesamten Prozess mit. Ich schaue hinter die Kulissen, sehe die Entwürfe. Jeden Tag, jede Stunde werde ich aufgeschlossener und erfahre viel."
David Keogh, Bürgerversammlung 2017
Gerade geht es um die Zukunft der Rente: Statistiken werden gewälzt, Experten angehört – mühsame Detailarbeit ohne Hinterzimmer-Gespräche, live übertragen ins Netz wie jedes Jahr.
"Die irische Wirtschaftskrise war schlimm, auf den Straßen so viel Wut bei den Bürgern. Die Schuld sahen sie bei den Politikern, die die Krise verursacht hatten. Deshalb gab es einen gemeinsamen Willen im Volk, dass wir etwas Neues probieren mussten: Und zwar die Bürger einbinden in die Debatte um Irlands Zukunft."
David Farrell, University College Dublin
Sie stimmen ab und empfehlen ihrer Regierung, wie sie handeln soll. Die Berufspolitiker müssen sich zwar nicht zwingend an das Bürgervotum halten, es ist aber ein starkes Signal.
Demokratie mit Los – eigentlich ein uraltes Prinzip: Bereits im antiken Athen wurde gelost: Die Volksversammlung, der Rat der 500 und sogar das oberste Gericht: Alle Ämter wurden auf Zeit zugelost. So war jeder Bürger irgendwann mal Teil der Regierung. Wutbürger? Damals undenkbar.
Undenkbar schien in Irland die Legalisierung der Homo-Ehe – zu konservativ die Bevölkerung, zu stark die Macht der Kirche. Dennoch diskutierte die Bürgerversammlung vor drei Jahren dieses Tabuthema – sachlich. Erst dadurch änderte Finbarr O’Brien seine Meinung:
"Ich habe eine wichtige Lektion gelernt: Homosexuelle sind normale Leute. Sie tun Kindern nichts. Also stand ich in der Bürgerversammlung auf und sagte, dass ich für die Homo-Ehe stimmen würde."
Finbarr O’Brien, Mitglied Bürgerversammlung 2014
So wie die Mehrheit der Bürgerversammlung. Deren Votum mündete in ein Referendum. Am Ende feierte das katholische Irland die Homo-Ehe. Zur gleichen Zeit boxte in Frankreich die Regierung die Homo-Ehe durch – von oben. Die Folge: Wut auf den Straßen.
Beteiligung, Mitsprache und Einfluss – für Finbarr das Beste, was ihm passieren konnte.
"In der Bürgerversammlung sitzen normale Menschen. Wir Bürger und unsere Meinungen sind da wichtig und werden angehört."
Finbarr O’Brien, Mitglied Bürgerversammlung 2014
Dafür müssten Politiker nur den Mut haben, sagt Finbarr, einen Teil der Macht in die Hände ihrer Bürger zu legen.