Polen Die neue Eiszeit
Wer Sehnsucht verspürt nach ausgedehnten Seen, romantischer Landschaft drum herum, nach dem Gefühl, dass die Zeit ein bisschen stehen geblieben ist, der ist hier richtig in der polnischen Wojewodschaft Masuren und Ermland.
Es ist der südliche Teil vom alten Ostpreußen. Viele der berühmten Alleen führen gen Norden zur russischen Enklave Kaliningrad. Sie sind derzeit noch leerer als sonst: die polnische Regierung hat im Juli den kleinen Grenzverkehr zwischen den beiden Grenzregionen eingestellt. Sicherheitsbedenken wurden als Grund genannt. Die russische Regierung zog postwendend nach, fast wie im Kalten Krieg, wird gemunkelt. Nun ist es sehr ruhig am Grenzübergang von Bezledy, auf beiden Seiten.
"Also, kurz nachdem der kleine Grenzverkehr gestoppt wurde, da sank die Zahl der Übergänge hier um 80 Prozent. Jetzt nimmt er allmählich wieder zu, weil die Menschen jetzt wieder Visa beantragen."
Mariusz Haraf, Grenzschutz Bezledy
Einer der Glücklichen, der sich das Visum leisten konnte: 54 Euro! Der einfache Passierschein des kleinen Grenzverkehrs kostete nur halb so viel. Vor allem ist jetzt der bürokratische Aufwand um vieles höher. Dafür ist der Aufwand an der Grenze weniger geworden: Früher lange Schlangen. Jetzt ist viel Zeit, jedes einzelne Auto zu filzen.
Die kauffreudigen Russen, sie werden nun schmerzhaft vermisst in Polen, vor allem von den Geschäftsleuten in Braniewo, dem alten Braunsberg, eine Kleinstadt kurz hinter Grenze. Großformatige Werbeschilder wenden sich direkt an die Russen. Und auch dieser Baumarkt mit Schwerpunkt Gartenbedarf freute sich über viele russische Kunden. Jetzt bleiben sie weg. Bei den Rosen zum Beispiel macht sich das bemerkbar: lauter übrig gebliebene Pflanzen.
"Als die Russen hier waren, haben sie alle Rosen ausverkauft. Und nun bleiben wir mit diesen paar Päckchen wohl bis Frühjahr sitzen. Nur rote Zahlen…"
Katarzyna Dąbrowska, Managerin
Die Managerin telefoniert jetzt häufig! Es sind Krisengespräche. Diese Abteilung für Innenausbau ist extra wegen der russischen Kunden erweitert worden. Und jetzt sind hier oft mehr Mitarbeiter als Kunden da.
"Wir sprechen nicht laut darüber, aber ich denke schon, dass sie Schlimmes ahnen. Die Mitarbeiter bekommen ja mit, dass es immer weniger Kunden sind."
Katarzyna Dąbrowska, Managerin
Der Uhrmacher Stanislaw Czech hat seine russischen Kunden richtig lieb gewonnen. Die schätzen seine Arbeit, seine Präzision. Sie hofften, dass der Stopp des kleinen Grenzverkehrs nur vorübergehend sei, sie irrten, und nun liegen seit Wochen ihre reparierten Uhren hier in der Schublade. Stanislaw Czech ist ratlos:
"Die, die kein Schengen-Visum haben, können nicht kommen, um ihre Uhren abzuholen. Und ich kann auch nicht dorthin fahren, um die reparierten Uhren zurück zu bringen. Mal sehen wie wir das lösen. Habe schon eine Mail geschrieben."
Stanislaw Czech, Uhrmacher
Vor den Supermärkten wie Lidl oder auch Biedronka stand einst ein russisches Auto neben dem anderen. Die Russen kauften Lebensmittel, Haushaltsgeräte, auch Alkohol. Und jetzt stehen nur noch wenige. Dabei gibt es sogar ein Lied von der Band "Paravoz" über die russische Kauflust im polnischen Nachbarland Polen: "Bier, Wurst, ja es eine verrückte Jagd. Hallo Lidl, hallo Biedronka, die Kaliningrader zieht es nach Polen. Hallo Biedronka, hallo Lidl."
Und jetzt herrscht hier Tristesse. Besonders hart getroffen: die Wechselstuben, denn jetzt kommen weder Polen noch Russen, die Rubel oder Zloty tauschen wollen. Anna Sawiak-Manafov pinnt den Wechselkurs an die Wand, ein tägliches Ritual, das ihr nun sinnlos vorkommt. Für sie ist der Stopp des kleinen Grenzverkehrs eine Katastrophe:
"Bankrott, Bankrott, Bankrott. Das Ende. Nach 25 Jahren in diesem Beruf. Jetzt denke ich sogar schon darüber nach, in den Westen zu gehen und dort einen Job zu finden. Und das ist meine Zukunft."
Anna Sawiak-Manafov, Besitzerin Wechselstube
Kaum vier Euro am Tag, beträgt der tägliche Gewinn derzeit. Und dabei sind Kredite zu bedienen. Die Wechselstube steht nun zum Verkauf.
Zur Gemeinde Braniewo gehört auch ein kleiner Yachthafen. Hier reden der Gemeindevorsteher und sein Freund, ein Bootsbesitzer, oft über die neue Situation. Die vielen russischen Bootsbesitzer sind nicht betroffen, die können sich die teuren Visa leisten. Aber sonst ist alles schwieriger geworden.
"Es hat sich wirklich am stärksten auf den Handel und auf den Tourismus ausgewirkt. Diese Bereiche leiden am meisten. Es ist einfach ein Beschluss der Verwaltung und keiner von uns hat Einfluss darauf. Aber wir drücken uns die Daumen, dass diese Entscheidung zurückgenommen wird."
Tomasz Sielicki, Gemeindevorsteher Braniewo
Die beiden Männer machen sich Sorgen, die Arbeitslosigkeit ist ohnehin schon hoch in der Region. Aber es geht auch nicht nur um das Wirtschaftliche.
"Es ist ja so: parallel zum Handel in unserer Grenzregion haben wir auch diplomatische Beziehungen aufgebaut, zum Beispiel zwischen Braniewo und Kaliningrad mit gegenseitigen Besuchen."
Tomasz Sielicki, Gemeindevorsteher Braniewo
Ob das so erhalten bleibt, fragen sich die beiden. Vor ihnen: das frische Haff. Wenn sie zum Horizont schauen, sehen sie Russland. Kalter Krieg? Nein, aber das Nachbarland ist wieder ein bisschen ferner gerückt.