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Tschechien 50 Jahre Prager Frühling

Es ist ein besonderer Frühling in Prag 1968. Ein Hauch von Aufbruch und Freiheit liegt in der Luft. Seit Monaten fordern Studenten Reformen in der Kommunistischen Partei. In Prag hat politisches Tauwetter eingesetzt.

Von: Arndt Wittenberg

Stand: 15.04.2018 | Archiv

Demonstration 1968 | Bild: BR

Zum Jahresbeginn 1968 gab es einen Führungswechsel an der Parteispitze, die Pressezensur wird kurze Zeit später aufgehoben. Immer wieder ziehen nun Demonstranten zum Wenzelsplatz. Auch Lida Rakusanova ist vor 50 Jahren als junge Studentin mit dabei. Wie so viele Tschechen und Slowaken hofft sie, dass aus der zaghaften Reform von oben eine Massenbewegung für Demokratie werden könnte. In der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität besucht Lida regelmäßig Versammlungen, auf denen die Studenten hitzig mit Reformkommunisten diskutieren: wieviel Selbstbestimmung ist möglich in dem stalinistisch geprägten System?

"Den meisten Leuten hier ging es nicht darum, den Sozialismus zu reformieren. Die wollten einfach Demokratie und Freiheit, freier reisen, freier denken, ohne Schablonen erfüllen zu müssen, und vor allem ohne Einmischung der Partei in das tägliche Leben der Leute."

Lida Rakusanova

Lida Rakusanova

Ihm jubeln die Menschen im Frühjahr 1968 zu: Alexander Dubcek, seit Januar Erster Sekretär der Kommunistischen Partei. Dubcek verspricht einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz". Doch für Leonid Breschnew ist das schon eine Konterrevolution. In der Nacht zum 21. August marschieren eine halbe Million Soldaten der Sowjetunion, Polens, Ungarns und Bulgariens in der Tschechoslowakei ein. Innerhalb weniger Stunden besetzen sie alle strategisch wichtigen Positionen des Landes.

Vor dem Rundfunkgebäude in Prag kommt es zu dramatischen Ereignissen. Lida Rakusanova hockt an ihrem Transistorradio, als der Sender frühmorgens funkt: "Wir sind mit euch. Seid mit uns!"

"Ich bin mir vorgekommen wie in einem bösen Traum, aus dem ich erwachen muss. Ich wollte das erst gar nicht wahrhaben. Erst als ich die Panzer mit meinen eigenen Augen gesehen habe, dieses Donnern von den Panzern auf der Straße gehört habe, ist mir klar geworden, dass das leider wahr ist."

Lida Rakusanova

Die tschechoslowakische Armee leistet keinen Widerstand. Viele Zivilisten wollen die Panzer dennoch aufhalten, wollen die Soldaten zum Beispiel hindern, das Rundfunkgebäude zu besetzen:

"Also niemand von ihnen war bewaffnet, niemand wollte den Soldaten etwas tun, außer: man wollte sie stoppen. Die Soldaten waren in absurder Panik und haben gedacht, da will jemand sie vielleicht angreifen und haben in diese Fenster geschossen, haben die Wohnungen in Flammen gesetzt und die Leute sind teilweise auch aus den Wohnungen gesprungen, weil sie sich sonst nicht zu helfen wussten."

Lida Rakusanova

100 Tschechen und Slowaken sterben beim Einmarsch der Invasionstruppen. Alexander Dubcek und andere Regierungsmitglieder werden festgenommen und nach Moskau gebracht. Am 27. August kehrt er nach Prag zurück. Unter Druck hat Dubcek die Aufhebung der Reformprojekte unterschrieben. Der "Prager Frühling" ist vorbei.

"Natürlich war in den ersten Tagen die Enttäuschung absolut riesig. Es war fürchterlich – für uns alle."

Lida Rakusanova

Keine Hoffnung auf Freiheit – Lida wandert mit ihrem Freund nach Deutschland aus. Es wird eine Massenflucht: Über 100.000 Tschechen und Slowaken verlassen das Land.

Im Januar 1969 wird die Tschechoslowakei noch einmal aufgerüttelt. Aus Protest gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings verbrennt sich der Student Jan Palach auf dem Wenzelsplatz. Zu seiner Beerdigung kommen Hunderttausende. Doch das Fanal des Märtyrers bleibt ohne größere Wirkung. Die Kommunistische Partei wird gesäubert, einer halben Million Parteimitgliedern wird das Parteibuch entzogen – die Tschechoslowakei bleibt zwei Jahrzehnte stramm auf Moskau-Kurs.

Marek Junek

Heute spielen die Ereignisse von 1968 in der tschechischen Öffentlichkeit keine dominante Rolle mehr. Im Gebäude des tschechischen Nationaldenkmals Vitkov wird an den Prager Frühling und die Symbolfigur Jan Palach mit einer kleinen Ausstellungsecke erinnert. Eine große Ausstellung zum 50. Jahrestag des Prager Frühlings – ist nicht geplant.

"Der Prager Frühling ist schon ein wichtiges Ereignis in der tschechischen Geschichte, das auch entsprechend gewürdigt wird. Aber es steht heute nicht mehr so im Mittelpunkt, vor allem auch nach der Wende 1989. Das liegt aber auch daran, dass in den Schulen das 20. Jahrhundert nicht ausreichend unterrichtet wird. Das wird den Jugendlichen nicht mehr genügend nahe gebracht."

Marek Junek, Direktor Historisches Museum

1989 erlangen Tschechen und Slowaken endlich die ersehnte Freiheit. Vaclav Havel wird zur Symbolfigur der samtenen Revolution und zum Wegbereiter der Demokratie.

Heute, fast 30 Jahre später, befindet sich Tschechien in einer politischen Dauerkrise: Bei der letzten Wahl haben mehr als die Hälfte der Tschechen populistischen oder extremen Parteien ihre Stimme gegeben. Eine handlungsfähige Regierung gibt es nicht. Und in der Prager Burg residiert mit Milos Zeman ein Präsident, der auch mit extrem fremdenfeindlichen Parolen die Wahl knapp für sich entscheiden konnte.

Lida Rakusanova ist über die jüngste Entwicklung in ihrem Land besorgt. Wie so viele befürchtet sie, dass in Tschechien, trotz boomender Wirtschaft, die Demokratie auf dem Spiel stehen könnte:

"Vor 50 Jahren waren das die sowjetischen Panzer, die das das überrollt haben – diese Hoffnungen auf ein freies und demokratisches Leben. Leider Gottes habe ich das Gefühl: jetzt sind wir dabei, im Begriff, das alleine zu machen, ohne die Panzer."

Lida Rakusanova

Politisches Chaos, populistische Parteien, verunsicherte Bürger – 50 Jahre nach dem Prager Frühling steht Tschechien wieder einmal an einem Scheideweg.


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