Norwegen Ölpreisschock: Ist der Reichtum in Gefahr?
Leben und arbeiten in Stavanger – das galt selbst im wohlstandsgesättigten Norwegen als Sechser im Lotto, dank der ansässigen Ölindustrie. Die Jobs waren sicher, die Gehälter hoch. Doch diese Gewissheiten gelten plötzlich nicht mehr. Der Absturz der Ölpreise hat die Stadt verändert.
Irene Buan gehört zu den Verlierern der Ölkrise. Die 23-Jährige ist eine hoch qualifizierte Ölingenieurin, doch trotz aller Bemühungen findet die Norwegerin seit dem Abschluss ihres Studiums keine Arbeit.
Wie viele Berufseinsteiger kann sich Irene nur mit einem Aushilfsjob über Wasser halten. Ihre Biografie ist typisch für Westnorwegen: Ihre Mutter arbeitete bereits auf der Bohrinsel, genauso ihr Bruder. Naheliegend, dass auch Irene Ölingenieurwesen studierte; bis letztes Jahr so etwas wie eine Jobgarantie. Irene hatte schon während des Studiums eine Jobzusage. Doch dann kam die Absage des Ölkonzerns: Ihr Job sei gestrichen.
"Meine Kommilitonen - und auch ich - wir hatten alle die Erwartung, dass wir direkt nach dem Studium einen gut bezahlten Job bekommen. Doch jetzt stehen wir alle ohne Arbeit da und können nur warten. Ja, wir sind alle ziemlich verzweifelt."
Irene Buan, Öl-Ingenieurin
Überleben, bis die Krise vorbei ist - Irene weiß keinen besseren Rat.
Das Helikopterterminal am Flughafen von Stavanger – von hier aus fliegen die Arbeiter im Stundentakt auf die Ölplattformen vor der Küste. Die Stimmung ist gedämpft in diesen Tagen, viele fürchten um ihren Job.
Es sind harte Zeiten für die sonst so erfolgsverwöhnten Norweger: bislang waren Jahresgehälter von 100.000 Euro in der Ölindustrie der Normalfall. Das war kein Problem, als das Nordseeöl der Sorte Brent noch 110 Dollar pro Barrel kostete. Doch nachdem sich der Ölpreis innerhalb eines Jahres mehr als halbiert hat, haben viele Ölkonzerne ihre Investitionen auf Eis gelegt. Sparen ist angesagt.
Als vor gut einem Jahr der Absturz des Ölpreises begann, war das für Stavanger ein Schock. In der kleinen Küstenstadt dreht sich alles um das schwarze Gold. Weit über 800 Firmen, die im Ölgeschäft tätig sind, haben hier ihren Sitz. Und es vergeht kaum eine Woche, ohne dass eines dieser Unternehmen Entlassungen verkündet.
"Im Zuge des Ölpreisverfalls haben bis jetzt mehr als 23.000 Beschäftigte ihre Arbeit verloren. Und wir gehen davon aus, dass es bis Jahresende mindestens 30.000 Menschen sein werden. Ja, wir machen uns ernsthaft Sorgen. Denn was viele unterschätzen: diese Situation gefährdet den gesamten Wohlstand in Norwegen."
Hilde Marit Rysst, Öl-Gewerkschaft Safe
Die Krise ist langsam überall in Stavanger zu spüren: Die Umsätze der Einzelhändler beginnen zu schrumpfen, Restaurants bleiben öfter leer, Taxifahrer klagen über schlechte Geschäfte.
Doch mit der Ölkrise kehrt auch wieder etwas Normalität zurück. Jahrelang waren in Stavanger die Preise für Wohnungen in schwindelerregendere Höhen gestiegen. Nun fallen sie wieder.
Auch Ölingenieurin Irene Buan hat sich während des Studiums verschuldet, um eine Immobilie zu kaufen. Das ist üblich in Norwegen, kaum jemand lebt hier zur Miete. Doch nun droht der Schuldendienst viele frischgebackene Akademiker zu erdrücken. Irene jedenfalls macht sich Sorgen: Ist ihre Generation Verlierer dieser Krise?
"Viele meiner Freunde haben sich teure Wohnungen gekauft, und wollten jetzt nach dem Studium mit der Tilgung der Kredite beginnen. Jetzt, wo keine Arbeit da ist, mussten viele irgendeinen Job annehmen, um die Kredite einigermaßen bedienen zu können: als Vertretungslehrer in Schulen, als Verkäufer in Boutiquen oder andere Aushilfsjobs."
Irene Buan, Öl-Ingenieurin
Solche Sorgen kennt Stale Kyllingstad nicht. Der 55-jährige Unternehmer ist Millionär, ein Selfmade-man der norwegischen Ölindustrie. Angefangen hat Kyllingsstad ganz unten, bei einer Putzkolonne auf der Ölplattform. Heute ist er Besitzer mehrerer weltweit tätiger Firmen, die Reinigungssysteme für Bohrinseln herstellen und warten. Für Kyllingsstad ist diese Krise auch eine Chance, sich auf verloren gegangene Werte zurück zu besinnen.
"Norwegen muss dahin zurück, wo es einmal war. Arbeit sollte wieder einen Wert haben. Wir müssen unsere Ingenieure und Facharbeiter besser unterstützen. Wir müssen zum Beispiel unsere Häuser wieder selber bauen. In den letzten Jahren haben das nur noch ausländische Kräfte gemacht. Aber ansonsten sehe ich Norwegen auf einem guten Weg."
Ståle Kyllingstad, IKM
Worüber Kyllingstad nicht so gerne spricht: Auch er hat im vergangenen Jahr viele Mitarbeiter entlassen müssen. Von 3000 Beschäftigten mussten fast 600 gehen. Dennoch gibt sich Kyllingstad optimistisch: Viele Investitionen seien nur aufgeschoben.
Tatsächlich hat Norwegen erst vor kurzem ein neues riesiges Ölfeld in der Nordsee erschlossen. Die Ölproduktion soll in vier Jahren beginnen. Langfristig also gute Aussichten für den Öl-Unternehmer.
"Es sind 80 Plattformen in Betrieb, und in den nächsten Jahren werden zehn weitere dazukommen. Norwegen ist und bleibt die weltweit größte Offshore-Industrie."
Ståle Kyllingstad, IKM
Die Hoffnungen der Norweger – sie ruhen weiter auf dem schwarzen Gold draußen in der Nordsee. Auch die arbeitslose Irene glaubt an "Johann Sverdrup"; so heißt das riesige neue Ölfeld, das in den nächsten Jahren 50.000 Arbeitsplätze bringen soll. Um die Zeit zu überbrücken, hat Irene begonnen, sich erst einmal weiter zu qualifizieren, mit einem Masterstudium, subventioniert vom norwegischen Wohlfahrtsstaat.
"Ich hoffe wirklich, dass es bald vorbei ist mit der Ölkrise und dass ich einen Job bekomme, bevor ich das Masterstudium abgeschlossen habe. Und das wünsche ich auch meinen ganzen Studienkollegen."
Irene Buan
Doch nach Einschätzung von Experten könnte die Rezession in der norwegischen Ölindustrie länger dauern. Das norwegische Ölmärchen – für Berufseinsteiger wie Irene ist es erst einmal zu Ende.