Türkei "Erdogan for President"
Die Suche ist beendet, der Schmerz bleibt. Das Unglück von Soma hätte für Ministerpräsident Erdogan auch eine Art Neuanfang sein können. Doch statt Trost zu spenden, lässt er andere die Katastrophe erklären.
"Aus Europa, Amerika und dem Nahen Osten wirken starke Kräfte auf unser Land und unsere Leute. Sie sollten uns in Ruhe lassen. An diesem Unglück sind nicht nur die Regierung, die Arbeiter oder die Geschäftsführung Schuld. Wir sind alle Schuld."
Sunulluh Durmus, Ingenieur
Letzte Woche versuchte Erdogan die Menschen in Soma auf seine ganz eigene Art zu beruhigen. "Das Unglück sei Schicksal“, meinte er abfällig. Eine aufgebrachte Menschenmenge stoppte daraufhin den Konvoi des Ministerpräsidenten. Einer seiner Berater trat brutal auf einen Demonstranten ein. Auch Erdogan selbst wurde handgreiflich: seine Leibwächter drängten Demonstranten in einen Supermarkt und verprügelten sie.
Ein Regierungschef als Schläger – das hat der Istanbuler Publizist Aydin Engin in 50 Jahren Berufsleben noch nicht erlebt. Doch das Verhalten Erdogans sei kein Ausdruck von Nervenschwäche, sondern Kalkül:
"Rund die Hälfte der Bevölkerung unterstützt Erdogans Politik. Um diesen Anteil zu festigen, muss er die andere Hälfte zu seinen Feinden erklären. Er muss die Polarisierung im Land aufrechterhalten. Und zwar langfristig. Das ist seine Taktik."
Aydin Engin, Kolumnist
Erdogans Aufstieg begann 2002: Mit der neugegründeten Gerechtigkeits- und Fortschrittspartei AKP gewann der frühere Islamist auf Anhieb die Wahlen. Er versprach weniger Staat, eine Annäherung an die Europäische Union - und einen neuen Führungsstil:
"Unser Verständnis von Parteiführung ist anders als: Einer bestimmt und die anderen folgen – das gibt es bei uns nicht. Und - unsere Partei orientiert sich nicht am Glauben. Wir orientieren uns am Menschen, wollen sie mit unserer Arbeit glücklich und zufrieden machen."
Recep Tayyip Erdogan, Wahlkampf 2002
Abdullatif Sener erinnert sich noch gut an diese Worte. Er war ein enger Weggefährte Erdogans und später nicht der Einzige, der ihm den Rücken kehrte.
"Er war schon immer so, aber um die Wähler nicht zu verschrecken und den Gegnern keine Angriffsfläche zu bieten, hat er sich zunächst anders gegeben. Jetzt fühlt er sich stark genug, weder auf die Verfassung noch auf die Partei Rücksicht nehmen zu müssen."
Abdullatif Sener, ehemaliger stellvertretender Ministerpräsident Türkei
Wer es wagt Erdogan zu widersprechen, macht ihn wütend. So wie der Vorsitzende der türkischen Anwaltskammer. Er wird von Erdogan niedergeschrien, weil ihm dessen Rede nicht gefällt. Selbst Staatspräsident Gül kann Erdogan nicht besänftigen.
Der Regierungschef sieht sich auf dem Zenit seiner Macht. Was das Ausland über ihn denkt, scheint ihm gleichgültig.
Im August will sich der 60-Jährige selber zum Staatspräsidenten wählen lassen. Für den Posten des Regierungschefs wird er dann wohl einen ergebenen Stellvertreter aussuchen.
Und wer nicht einverstanden ist, der bekommt die harte Hand Erdogans zu spüren, so wie die wütenden Menschen von Soma.