Türkei Das zwiespältige Verhältnis zum IS
Ankara, 10. Oktober, vor sechs Wochen: Aus einer Friedensdemonstration wurde ein Massaker. Das Resultat: 102 Tote und über 500 Verletzte.
Es war der schwerste Terroranschlag, den es in der Türkei je gab; ausgeführt vom sogenannten "Islamischen Staat".
Mete Yarar war Major bei den türkischen Streitkräften und viele Jahre im Südosten der Türkei stationiert. Er sagt, das Blatt habe sich gewendet.
"Wenn die Türkei den IS unterstützen würde, wie das Ausland behauptet, warum verübt der IS dann mehrere Terrorangriffe in der Türkei?"
Mete Yarar , Sicherheitsexperte
Der selbsternannte IS - er ist für die Türkei inzwischen zu einer massiven Bedrohung geworden. Immer näher rückt er an die knapp 900 Kilometer lange Grenze zwischen Syrien und der Türkei. Das Kalkül der türkischen Regierung ist nicht aufgegangen, erhofften sich doch die Machthaber noch bei Beginn des Syrienkonflikts durch die IS-Terrormiliz die Beseitigung des großen Feindes Assad im Nachbarland Syrien. So ließ man die Grenzen offen. Zehntausende Dschihadisten konnten auf diese Weise einreisen und leicht für Nachschub von Waffen sorgen. Selbst verletzte IS-Kämpfer sollen in türkischen Krankenhäusern nahe der Grenze behandelt worden sein.
Ein weiterer Grund für das heimliche Paktieren: Die IS-Milizen bekämpften nicht nur Assad, sondern auch die Kurden. Diese haben inzwischen drei selbstverwaltete Kantone errichtet. – Ein Alptraum für die Türkei. Nichts befürchtet die Regierung mehr, als das Ausrufen eines eigenen kurdischen Staates. Nach dem Motto "Der Feind meines Feindes ist mein Freund" ließ die Türkei die IS-Terrormilizen zunächst gewähren und wachsen. Jetzt steht die Gefahr jedoch nicht mehr nur vor der Tür, sie ist im eigenen Land angekommen.
"Es war doch klar, dass irgendwann die Dschihadisten, die rüber nach Syrien gegangen sind, wieder zurückkommen. Wenn Europa deren Namen kennt, die Türkei aber davon nichts weiß, dann hat sie ein Problem mit den Kontrollen und damit der Sicherheit im eigenen Land."
Mete Yarar, Sicherheitsexperte
Tägliche Kontrollen gibt es jetzt. In Gaziantep, nahe der Grenze zu Syrien, konnte man eine Zelle der IS-Terroristen einen Tag vor Beginn des G20-Gipfels in Antalya aufdecken. Am Tag der Anschläge von Paris war auch für Istanbul ein großes Attentat geplant. Es wurde vereitelt.
"Die Türkei sagt, um die Grenzkontrollen zu verbessern, braucht sie die Informationen verdächtiger Personen aus Europa. So könnte die Türkei die Dschihadisten an der Grenze aufhalten und zurückschicken. Dieser Austausch hat bis jetzt fast überhaupt nicht stattgefunden. Das ist das Problem zwischen der Türkei und Europa."
Mete Yarar, Sicherheitsexperte
Einer der Drahtzieher der Pariser Anschläge, Ismael Mostefai, war bereits im Vorfeld den türkischen Sicherheitsbehörden aufgefallen. Sie machten nach Angaben eines Ermittlers ihre Kollegen in Frankreich zweimal auf diesen Terrorverdächtigen aufmerksam.
"Als er in die Türkei kam, fiel er den Geheimdiensten auf, sie verfolgten ihn. Sie wussten, dass der Mann nach Syrien ging und zurück in die Türkei kam. Diese Person hatte definitiv Verbindungen zum IS. Da liegt es nahe, dass er Anschläge ausführen wollte. Sie meldeten es den belgischen und französischen Behörden. Diese jedoch haben dies nicht ausreichend verfolgt."
Mete Yarar
Erst nach dem Anschlag sei aus Paris angefragt worden, so die türkischen Behörden.
Die mächtigsten Regierungschefs letztes Wochenende auf dem G20-Gipfel in der Türkei, kurz nach den Anschlägen in Paris. Die Dringlichkeit der Lage braucht Entscheidungen, gemeinsame. Diese werden in einer Abschlusserklärung getroffen. Sie lauten: Geldquellen für Terrorismus stoppen, Grenzen besser überwachen, Flugverkehr besser sichern, Terrorpropaganda im Internet bekämpfen.
Am Mittwoch wurden am Flughafen von Istanbul acht Marokkaner festgenommen, auch sie mutmaßliche IS-Dschihadisten. Die Tatverdächtigen wollten laut Aussage türkischer Ermittler über die Balkanroute als Flüchtlinge einreisen, nach Deutschland. Es stand auf einem handgeschriebenen Zettel, den man bei den Festgenommenen fand.
"Falls die Europäische Union so große Angst hat vor Terroristen, dann müssen sie insbesondere beim Thema IS eine gemeinsame Zusammenarbeit der Geheimdienste beginnen. Denn oft geht es nur um Augenblicke, in denen Entscheidungen getroffen werden müssen."
Mete Yarar
Tausende Jihadisten gingen über die türkische Grenze nach Syrien und in den Irak. Über die gleiche Grenze kommen sie auch wieder zurück, für den Jihad in Europa. Um dies zu verhindern ist die Absicherung der türkischen Grenzen alternativlos und damit eine Zusammenarbeit mit der Türkei.