Zwischen Bergen und Gehölz Heimatkunde von Jörg Maurer
Ich bin in Garmisch-Partenkirchen geboren, und zwar genau auf dem Bindestrich. Heimat ist da, wo man solche Details weiß. Der Kurort selbst ist, wie man weiß, umstellt von vielen Bergen. Am bekanntesten sind die Zugspitze, der Waxenstein und der Kramer. Mein Vater ist mit mir als Knaben immer auf die Kramerspitze gegangen und hat mir von dort oben, in fast zweitausend Metern Höhe, die Welt gezeigt. "Erst wenn man die Fremde sieht, kann man die Heimat ganz schätzen", pflegte er zusagen. Um mir noch einen präziseren Einblick in diese Zusammenhänge zugeben, nahm er mich an den großen Segelohren, die man als Kind nun mal hat, hob mich daran hoch und schwenkte mich sanft gen Norden.
Kommissar Jennerwein (M. Feifel) rettet seine Kollegin Schwattke (K. Schubert) vor dem Sturz vom Speicher.
"Siegst Minga?", sagte er scherzhaft, und ich bekam eine leise Ahnung von der Landeshauptstadt. Ich konnte ihn undeutlich erkennen, den nimmer versiegenden Strom von Kurgästen, der sich in den Talkessel ergießt, ihn gegen Kurtaxe verwüstet und dann weiterzieht. Mein Vater setzte mich wieder auf einer original Berglatsche ab. Ich rieb mir die Ohren. Heimat ist für mich seitdem dort, wo der Schmerz langsam nachlässt.
Jahre später bin ich wieder einmal hinaufgestiegen auf die Kramerspitze und habe mir das luxuriöse Panorama angeschaut. Mein Blick schweifte hinüber nach Süden. Dort kann man das Habsburgerische, das Tirolerische ahnen, die drohende Nähe zu Österreich findet ihren deutlichsten Ausdruck im Föhn, der von dort herbläst und wütet. Dieser österreichische Fallwind, dieser italienische, der senkt sich manchmal wirklich sakrisch über den Talkessel. Er ist verantwortlich für Zwietracht, Neid, Eifersucht, Hass, Mordlust, Zorn, Wut, Verzweiflung, Missgunst, Enttäuschung, Schmerz, Depression, Abscheu, Ekel, Angst, Trauer, Leere, Schrecken, Entsetzen, Gram, Furcht und Gier. Heimat ist dort, wo man aus dem Stand einen Kriminalroman schreiben kann.
Senkt man seinen Blick ein wenig, sieht man von der Kramerspitze aus das Höllental, und in der wild rauschenden Höllentalklamm toben sich die Gesetze der Physik aus. Auch der Teufel soll da wohnen, hatte mir meine Oma erzählt, allerdings ein touristisch gemäßigter Teufel, der in der Kurtaxe inbegriffen ist. Als Kind denkt man sich noch nichts dabei, aber wenn man heranwächst im Loisachtal, fällt einem schon auf, dass sich die Absonderlichkeiten dort häufen. Auf dem Viersterne-Friedhof am Fuße des Kramers sollen sich manche Ureinheimische bäuchlings beerdigen haben lassen, um der Verwandtschaft einen ewigen letzten Gruß entgegenrecken zu können. Dieses Jahr hat eine Eventagentur aus München vorgeschlagen, den ganzen bergumstellten Talkessel mit Beton aus zugießen und zu beschneien, um auf diese Weise eine riesige Snowboard-Halfpipe zu erhalten. Und im Gemeinderat des Bindestrich-Ortes ist der Vorschlag aufgetaucht, die Zugspitze um knapp vierzig Meter höher zu legen, so dass auch wir einen veritablen Dreitausender haben. Heimat ist die Gegend, in der geträumt werden darf.
Grade gestern war ich wieder droben auf der Kramerspitze. Babyaugenblau spannte sich der Himmel übers Tal, hinten lag die Sprungschanze wie der vergessene Stöckelschuh einer Riesin - vielleicht der Bavaria? Das Wettersteingebirge protzt mit einem unwirklichen Metallic-Glanz, und die Föhnlinsen sind einmal ausnahmsweise nach München weitergekreiselt. Heimat ist dort, wo man denkt: Mensch, das müsste einmal verfilmt werden.