Lebenslinien - Analphabetin Annette: Durchs Vorlesen zum Lesen Für meine Tochter lerne ich lesen
Annette lebt Anfang der Siebziger Jahre in Chile. Ihre deutschen Eltern sind überfordert, überlassen ihre Kinder meist sich selbst. Die erleiden oft Hunger, und keiner bemerkt, dass Annette die Schule schwänzt und weder lesen noch schreiben lernt. Doch sie ist sehr praktisch veranlagt: Zurück in Franken wird sie eine gute Fahrrad-Mechanikerin. Erst als sie ihrer Tochter vorlesen soll, kommt sie in Bedrängnis …
Annette ist ein halbes Jahr alt, als ihre Eltern 1967 mit ihr und den älteren Schwestern nach Chile auswandern. Doch das Jobangebot des Vaters erweist sich als leeres Versprechen, die Familie erleidet bald bittere Armut.
Filminfo
Originalitel: Für meine Tochter lerne ich lesen (D, 2021)
Regie: Eilsabeth Mayer
Redaktion: Christian Baudissin
Länge: 45 Minuten
VT-UT, 16:9, stereo
Die überforderten Eltern überlassen ihre Kinder immer häufiger sich selbst. Annettes Schwestern besuchen eine katholische Vorschule. Vier chilenische Schülerinnen werden auf die Mädchen aufmerksam und begleiten sie nach Hause, wo sie Chaos und eine spindeldürre Dreijährige vorfinden:
Annette. Die Chilenen springen ein und geben den Kinder ihnen Zuwendung. 1973 zieht die Familie nach Panama, wo die Eltern Arbeit finden. Bitterlich vermisst Annette dort ihre chilenische Ersatzfamilie. Als sie eingeschult wird, schwänzt sie regelmäßig die Schule, was niemand bemerkt.
Annette mit ihrer Enkelin. Um deren Mutter vorzulesen, hat Annette erst als junge Frau lesen und schreiben gelernt.
1978 bekommt der Vater Arbeit in Erlangen, und die Familie kehrt nach Deutschland zurück. Annette spricht kaum Deutsch und kann weder lesen noch schreiben. Auf der Hauptschule wird sie jedoch wegen ihres sozialen Wesens und Pragmatismus geschätzt und "durchgeschleust“.
Ihre Fahrradmechaniker-Lehre besteht die Analphabetin als Beste ihres Jahrgangs. Doch erst, als sie ihrer eigenen Tochter vorlesen soll, beginnt Annette mühsam, lesen und schreiben zu lernen.
Statement der Autorin Elisabeth Mayer
Annette war mit ihrem Fahrrad auf der Rückfahrt von ihrem Urlaub mit Zelt an der Ostsee, als sie im Zug einem Freund von mir begegnete. Sie erzählte von ihrem Leben. Der Freund, der von meiner Arbeit als Autorin und Regisseurin für "Lebenslinien“ wusste, war total angefixt und fragte Annette nach ihren Kontaktdaten.
Wenig später bekam ich seine Mail mit der Mitteilung "er hätte jemanden kennengelernt – ob diese Frau für mich interessant wäre für "Lebenslinien“?
Und wie sie das war! Über das hinaus, was der Freund interessant fand, kristallisierte sich für mich eine Geschichte heraus mit einer solchen Tragweite, wie ich selten eine in meinen 25 Jahren Lebenslinien erlebt habe. Annettes Geschichte zu erzählen wurde ein "Muss“.
Annette ließ das Kamerateam und mich während der Dreharbeiten ganz nah an sich heran und erzählte in aller Offenheit ihr Schicksal. "Warten, bis alles gut wird“ wurde das Motto ihres Lebens.
Heute, mit Mitte 50, ist sie ganz bei sich angekommen.