BR Fernsehen - Lebenslinien


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Lebenslinien - Manuela und Michel: Ein Leben mit ALS Für uns zählt jeder Atemzug

Manuela und Michel aus Oberbayern leben den Traum einer glücklichen Familie. Doch die perfekte Welt gerät aus den Fugen, als bei Michel vor 13 Jahren die unheilbare Motoneuron-Krankheit ALS diagnostiziert wird. Die Kinder sind da gerade einmal zwei und sieben Jahre alt. Die junge Familie hadert zunächst mit ihrem Schicksal. Nach einer folgenschweren Entscheidung finden sie zurück in ein gemeinsames Leben.

Stand: 18.07.2024 | Archiv

Manuela wächst sorglos in einer bayerisch-traditionellen Familie bei Mühldorf am Inn auf. In Michel, einem erfolgreichen iranischen IT-Ingenieur, trifft sie mit Mitte 20 ihren Traummann. Gemeinsam ziehen sie nach Boston und bereisen die Welt.

Filminfo

Originalitel: Für uns zählt jeder Atemzug (D, 2020)
Regie: Jasmin Cilesiz Linhart
Redaktion: Sonja Hachenberger
Länge: 45 Minuten
VT-UT, 16:9, stereo

Manuela und Michel bekommen zwei Kinder, sie bauen ein Haus, das Glück der Familie scheint perfekt. Bis zu dem Tag, an dem Michel die Diagnose ALS bekommt, eine degenerative, unheilbare Nervenkrankheit, mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von drei bis fünf Jahren.

Familienfoto

Bei ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) bilden sich nach und nach alle Muskeln im Körper zurück. Schlussendlich erstickt der Patient. Mit diesem Damoklesschwert lebt die Familie von nun an. Michel muss seinen körperlichen Verfall bei vollem Bewusstsein miterleben.

Vor neun Jahren hat Manuela auf der Intensivstation eine folgenschwere Entscheidung getroffen: Um am Leben bleiben zu können, wird Michel künstlich beatmet und ernährt.

Von nun an ist die Familie nicht mehr allein. Besonders Pfleger Vitali steckt die Familie mit seiner guten Laune an. Mit seiner Unterstützung sind wieder gemeinsame Ausflüge möglich.

Heute kann sich Michel nur noch durch Augenbewegungen verständigen, ein Sprachcomputer ermöglicht die Kommunikation. Für Manuela ist klar: Wenn Michel eines Tages nicht mehr möchte, dann begleitet sie ihn auch auf diesem Weg.

Autorin Jasmin Cilesiz Linhart über die Dreharbeiten

Woher kennen Sie die Protagonisten und wie entstand die Idee zum Film?

Kennengelernt haben wir uns vor 15 Jahren im Urlaub am Gardasee. Es gibt eine persönliche Verbindung zu den Protagonisten: Mein Mann Alexander und Michel kennen sich bereits seit ihrer Studentenzeit und sind bis heute befreundet. Ich kenne Michel noch aus gesunden Tagen. Bei einem unserer Besuche bei Michel kam die Idee auf, seine Geschichte bzw. die der Familie mit der Krankheit zu erzählen. 2015 entstand ein kurzer Beitrag im BR in der Sendung "Stationen“. Sechs Jahre später kam dann die Gelegenheit, einen Film für die "Lebenslinien“ zu machen.

Wie verliefen die Dreharbeiten?

Von der Idee bis zur geplanten Ausstrahlung verging fast ein Jahr. Die Dreharbeiten waren sehr tagesformabhängig, da wir uns stets nach dem Zustand von Michel richten mussten. Die Interviewführung mit ihm konnte durch seine sprachliche Beeinträchtigung nicht wie gewohnt stattfinden. Ich habe Michel über den gesamten Drehzeitraum hinweg immer wieder Fragen geschickt, die er per „Augenklick“ auf seinem Sprachcomputer beantwortet hat. Michel muss dafür jeden einzelnen Buchstaben mit den Augen so lange fixieren, bis der Buchstabe auf dem Bildschirm erscheint. So hat er die gesamten Antworten, die im Film zu hören sind, Buchstabe für Buchstabe für uns geschrieben.

Das Team und ich wurden jedes Mal sehr warmherzig und offen empfangen. Entgegengesetzt aller Erwartungen war die Stimmung im Haus oft ausgelassen und lustig. Der Pfleger Vitali sorgte zudem meist für eine angenehme Leichtigkeit. Aber auch Manuela, Michel Junior und Tochter Emma waren gut gelaunt. Eine sehr authentische Familie, die mit viel Herz und Liebe füreinander ihr Leben meistert.

Was hat Sie an dieser Familie fasziniert?

Die Kraft, wie sie einen so tragischen Schicksalsschlag bis heute meistert. Ohne Hoffnung auf Besserung zu leben ist, denke ich, für die meisten Menschen eine der größten emotionalen Herausforderungen, der man sich stellen kann. Dennoch haben Manuela, Michel und die Kinder ihren Mut und ihre Lebensfreude nicht verloren. Manuela hat ihre Familie über die tragischen ersten Jahre von der Diagnose ALS bis zur Beatmung zusammengehalten. Sie hat Entscheidungen getroffen, die ich für sehr mutig halte. Und - sie ist bis heute die treibende Kraft in ihrer Familie. Eine starke Frau.

Auch der Zusammenhalt, insbesondere durch Manuelas Eltern und Geschwister, haben ihr durch die vielen schwierigen Jahre geholfen. Diesen Zusammenhalt finde ich sehr bewundernswert.

Interview mit der Familie zu Corona (Mai 2020)

Als sich die Situation in der Corona-Krise vor einigen Wochen schnell verschärft hat, haben wir vier entschieden, uns von der Welt draußen abzuschotten. Uns kommt hier eins zugute, nämlich dass wir Krise können. Das haben wir in den vergangenen Jahren mit der Krankheit gelernt. Wir können uns sehr schnell an Umstände anpassen, die wir nicht verändern können und erkennen, was zu tun ist.

Die Kinder waren durch die Schulschließung und die bereits bestehenden Semesterferien sowieso hier und ich bin nicht mehr zur Arbeit gegangen, um Corona keinen Zugang zu ermöglich. Würde Michel nicht zu den Risikopatienten zählen, wären wir sicherlich auch vorsichtig, aber bestimmt nicht in diesem Maße.

Manuela und Tochter Emma.

Michel war die ganzen Wochen über relativ entspannt. Was Covid19 mit Beatmungspatienten macht, ist uns nicht bekannt. Mit den Eckdaten, die wir haben, können wir uns aber vorstellen, dass eine Infektion für Michel der Supergau wäre. Sein Immunsystem, das bereits gegen ihn arbeitet, müsste Eindringlinge abwehren, der Transport des Sauerstoffs wäre nicht mehr gewährleistet. Die Belastung für den ohnehin geschwächten Körper wäre groß.

Anfangs bin ich vor allem nachts zwischen Panik und Zuversicht geschwankt. Es wurde aber bald besser.Ich habe mich entschieden, die Zeit zu nutzen und habe es genossen, meine Kinder endlich länger um mich zu haben. Wir waren sehr nett zueinander und hatten wirklich eine gute Zeit.

Wir waren sogar produktiv in dieser Zeit, haben unsere Sträucher selbst geschnitten, Unkraut beseitigt, den Pool geputzt und eingelassen, Schränke ausgemistet, viel gekocht und zusammen gegessen. Selten waren wir in Sachen Essen so organisiert. Dadurch dass hauptsächlich meine Schwägerin für uns einkaufen ging, haben wir jede Mahlzeit planen müssen, um alles im Kühlschrank zu haben.

Michel an seinem Sprachcomputer.

Michel hat sich gefreut, endlich wieder mehr Action um sich zu haben, weil wir rund um die Uhr hier waren. Einzig den Getränkemarkt habe ich übernommen, was mich aber jedes Mal gestresst hat. Wann ist der beste Tag, die beste Uhrzeit, um keinem zu begegnen? Bis vor der Zeit mit der Maskenpflicht hatte keiner einen Mundschutz getragen. Somit konnte ich mich nicht schützen.

Viele Menschen nehmen keine Rücksicht auf andere, machen sich nicht die Mühe zu kapieren, was es bedeutet, wenn sie sich nicht selbst schützen.

Die Pfleger waren unser einziges Risiko. Sie sind natürlich in ihren eigenen  Familien und bewegen sich dort auch. Wir haben nicht von ihnen verlangt, einen Mundschutz bei uns zu tragen. Wir können nur hoffen, hier beschützt zu werden.

Unser Junior ist seit letzter Woche wieder in seiner WG in Regensburg, er passt sehr auf,  es muss aber weitergehen. Emma hat bis heute ausschließlich zu ihrer Familie und zu ihrer Freundin Kontakt, bei der sie jetzt zweimal im Garten gesessen ist. Ihr fehlen ihre Freunde sehr. Wie das Leben im Internat für Emma sein kann, wissen wir noch nicht. Wir werden bald abwägen und entscheiden müssen, ob sie wochenweise das Internat und damit auch ihre Schule besuchen kann.

Michel Junior und sein Vater Michel.

Ich bin seit einer Woche wieder in der Arbeit und gehe selbst einkaufen. Immer noch am besten Tag und zur besten Uhrzeit an so wenigen Tagen wie möglich. Dank Maskenpflicht traue ich mich das jetzt. Wir sind sehr froh und dankbar, in einem Land zu leben, in dem politische Entscheidungen zum Wohl seiner Gemeinschaft getroffen werden.

Wir wissen, dass dieses Virus nun da ist und die Wirtschaft mit den damit verbundenen Lockerungen wieder anlaufen muss. Jedoch verstehen wir es ganz und gar nicht, weinende junge Mütter in den Nachrichten zu sehen, die es nicht mehr aushalten, zuhause bleiben zu müssen, im Home Office, mit  ihren schulpflichtigen Kindern und demonstrierende Eltern zu sehen, die die Öffnung von Kitas fordern.

Warum nicht dankbar sein, weil es noch viel schlimmer sein könnte, als es gerade für die meisten  ist? Woher kommt dieses Anspruchsdenken auf Freiheit in der Entscheidung? Was sind denn schon ein paar Wochen oder Monate zusammen als Familie zuhause ohne Museumsbesuche und ohne Lokalbesuche im Vergleich zu 13 Jahren zuhause mit ALS?


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