8 Fragen und Antworten Bakteriophagen: Warum es eine Antibiotika-Alternative in der EU schwer hat
Wirkungslose Antibiotika, multiresistente Krankenhauskeime, Alarmstimmung bei der Weltgesundheitsorganisation – Fachleute erwarten dadurch bis 2050 über 10 Millionen Tote, wenn nicht endlich weltweit etwas geschieht.
Eine Alternative zu Antibiotika könnte beim Kampf gegen Killerkeime wirksame Unterstützung bieten, manchmal könnte sie Antibiotika sogar ersetzen. Bakteriophagen sind seit 90 Jahren bekannt, erfolgreich und erheblich billiger als Antibiotika. Bislang sind die Hürden für ihren Einsatz in der EU jedoch zu hoch. Doch das könnte sich ändern. Acht Fragen und Antworten zum Thema:
1. Was sind Bakteriophagen?
Bakteriophagen (kurz: Phagen) sind Viren mit nur einem Ziel: die Kontrolle über Bakterien zu gewinnen. Man findet sie überall da, wo auch Bakterien sind, in Kloaken und Jauchegruben zum Beispiel. Sie nützen überall da, wo Bakterien schaden. Denn sie sind Bakterienfresser.
Das geht so: Bakteriophagen docken an und spritzen ihre Erbinformation in das Bakterium. Die Bakterienzelle wird so gezwungen, in seinem Inneren neue Phagen zu produzieren. Bis die Bakterie platzt und viele neue Bakteriophagen freigibt. Die greifen wiederum Bakterien an, bis keine mehr da sind. Erst dann verschwinden auch die Bakteriophagen, denn sie haben keinen Wirt mehr.
2. An wen können sich Betroffene wenden, wenn kein Antibiotikum mehr hilft?
In Deutschland können Ärzte Phagentherapien anwenden, wenn kein Antibiotikum mehr hilft. Den rechtlichlichen Rahmen hierfür liefert die Konvention von Helsinki. Jedoch sind Bakteriophagen als Medikament in Deutschland nicht zugelassen. Kaum ein Arzt kennt sie, keine Apotheke hat sie vorrätig.
Bakteriophagenkulturen liegen weltweit verstreut in verschiedenen Laboren bereit. Eine englischsprachige Datenbank hilft jedoch bei der Suche nach den richtigen Bakteriophagen für jeden Einzelfall. Renommierte Experten und Ansprechpartner für Betroffene sind im Westen Europas besonders in Belgien zu finden: der Mikrobiologe Jean-Paul Pirnay vom Königin-Astrid-Militärhospital in Brüssel, an das sich auch Zivilisten wenden können, sowie Patrick Soentjens, medizinischer Forscher am Institut für Tropenmedizin in Antwerpen.
3. Wo werden Bacteriophagen zur Therapie eingesetzt?
Bakteriophagen wirken bei Mensch und Tier. Durch die Entwicklung des Penicilins und der Antibiotika-Revolution gerieten sie in Westeuropa jedoch in Vergessenheit. Anders in Osteuropa. Im kaukasischen Georgien wurde die Phagentherapie vor rund 90 Jahren entwickelt. Im Zweiten Weltkrieg behandelten die russischen Ärzte ihre Soldaten mit Phagen – oft erfolgreich vom Durchfall bis zum Wundbrand. Der Kalte Krieg verhinderte dann, dass das Wissen um die Phagentherapie sich auch im Westen verbreitete. Hier forschten Wissenschaftler stattdessen weiter an den Antibiotika.
In Osteuropa sind Phagentherapien mit Tausenden von erfolgreichen Behandlungen jedoch bis heute Standard. Deshalb hat sich auch eine Art Medizintourismus entwickelt – notgedrungen und mit all den Komplikationen und Nachteilen, die das mit sich bringt.
4. Warum werden Phagen jetzt auch in Westeuropa wieder interessant ?
Das Wissen über Phagen ist mit der EU-Osterweiterung wieder in den Westen gelangt. Der Handlungsdruck durch wirkungslose Antibiotika nimmt auf bedrohliche Weise zu. Und: Durch den Fortschritt der Gentechnik können Phagen noch wirksamer werden. Erst im Mai 2019 zeigte das die spektakuläre Heilung einer Lungenpatientin, die vom Tod durch multiresistente Keime bedroht war.
In München wird neuerdings ebenfalls geforscht. Ein studentisches Start-up der TU München will in Zusammenarbeiot mit dem Helmholtz-Zentrum München die Präparation und Herstellung von phagenbasierten Therapeutika bedeutend vereinfachen und beschleunigen
5. Was sind die rechtlichen Hürden für einen breiteren Einsatz von Phagen in der EU?
Bisher gibt es in der EU noch keinen Rechtsrahmen für die Verwendung von Phagen. Die EU-Kommission beteiligt sich lediglich an Studien zur Erforschung. Was fehlt, ist jedoch Rechtssicherheit für Forscher, Hersteller, Ärzte, Apotheker und Patienten.
Das Hauptproblem ist der Unterschied zwischen Phagen und Antibiotika. Die Letzteren wirken bei der ersten Anwendung genauso wie bei der hunderttausendsten oder millionsten Gabe. Um das zu erreichen, investiert die Industrie im Schnitt 3 Milliarden Euro in die Entwicklung eines einzelnen Antibiotikums. Langwierige Tests und Massenstudien an Tausenden Probanden führen zu höchster Patientensicherheit und Herstellungsqualität. Einmal eingeführt, refinanziert sich das Antibiotikum dann für den Pharmakonzern über millionenfachen Verkauf.
Dieses Geschäftsmodell lässt sich auf Phagen nicht anwenden. Anders als Antibiotika wirken Phagen spezifisch, je nach Art immer nur gegen eine Bakteriengruppe. Forscher müssen also zuerst die Phagen suchen und finden, die zum individuellen Abstrich eines Patienten passen. Zudem muss ausgeschlossen werden, dass die Phagen unerwünschte Eigenschaften mitbringen. Manche können Gifte produzieren oder sich ins Erbgut von Bakterien einbauen. Diese sind als Therapiephagen nicht geeignet.
6. Warum ist Belgien vorgeprescht?
Weil unstrittig ist, dass Bakteriophagen heilen können und weil der Handlungsdruck durch multiresistente Keime übermächtig wird, hat das belgische Gesundheitsministerium 2018 nationale Rechtssicherheit für Phagentherapie geschaffen.
In Europa gibt es pharmazeutische Massenproduktion und Arznei für den Einzelfall – beides ist in der EU gesetzlich geregelt. Doch erst die Mischung macht die Bakteriophagentherapie möglich. Basis der belgischen Methode sind aktive pharmazeutische Inhaltsstoffe, streng nach Handbuch produziert. Die bekommt der Apotheker, um höchst individuelle Phagencocktails zu mixen. Je nach Patient mit unterschiedlichen, streng zertifizierten Zutaten.
Belgien wirbt für eine schnelle nationale Vernetzung, bis die EU einen angemessenen Rechtsrahmen vorgelegt hat. Da die Pharmaindustrie bislang kein funktionierendes Erlösmodell gefunden hat, ist der belgische Staat als Erstfinanzierer aktiv geworden. Damit wird die rechtssichere Phagentherapie im Königin-Astrid-Hospital in Brüssel ermöglicht und auch für Zivilisten zugänglich.
Doch hält die Bundesregierung eine Regulierung nach belgischem Vorbild auch in Deutschland für möglich? Und: Wie steht die Bundesregierung dazu, dem belgischen Beispiel zu folgen und vor einer möglichen EU-Regulierung mit nationaler Regulierung voranzuschreiten? Das Bundesgesundheitsministerium beantwortete unsere Fragen denkbar knapp mit E-Mail vom 12.6.2019: "Die in Belgien praktizierte Therapie mit magistralen Zubereitungen von Phagen ist dem BMG bekannt".
7. Was tut die EU, um Therapien mit Bakteriophagen zu erleichtern?
Das Europaparlament hat in seinem Bericht über den Europäischen Aktionsplan zur Bekämpfung antimikrobieller Resistenzen im Rahmen des Konzepts "Eine Gesundheit" (2017/2254(INI)) vom Juli 2018 die EU-Kommission in Punkt 84 aufgefordert, "einen Rahmen für Phagentherapien vorzuschlagen, der auf den jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht". Ein knappes Jahr später betrachtet die scheidende Berichterstatterin Karin Kadenbach die Antwort allerdings als "eher unbefriedigend" und wünscht sich, dass das neue Personal entsprechende Fragen angeht.
Auch aus der mikrobiologischen Forschung kommen konkrete Vorschläge zur Beschleunigung der Verfahren. Der Baseler Mikrobiologe Wilbert Sybesma schlägt dabei die Bildung eines fachübergreifenden Expertenteams vor, das innerhalb von neun Monaten einen arbeitsfähigen Rahmen für die Anwendung der Bakteriophagentherapie in ganz Europa aufsetzt.
8. Wie ist die aktuelle Rechtslage in Deutschland bezüglich Phagentherapien in Deutschland ?
Paragraf 73 Arzneimittelgesetz regelt das Verbringen und Anwenden von nicht in Deutschland zugelassenen Arzneimitteln. Besonders wichtig ist Absatz 3, der entsprechende Ausnahmeregelungen für grundsätzlich nicht zugelassene Fertigarzneimittel zur Anwendung bei Menschen vorsieht.
So können entsprechende Medikamente aus einem anderen Land bezogen werden, sofern sie "in dem Staat rechtmäßig in Verkehr gebracht werden dürfen", aus dem sie an hiesige an deutsches Recht gebundene Verbraucher gelangen. Einem Würzburger Schüler, den wir in unserer Recherche begleiteten, konnten durch diese Sonderregelungen zwei von drei Bakterien aus dem Körper entfernt werden. Doch beim verbleibenden dritten Bakterium zeigten sich die Schwachstellen der europäischen Rechtslage in ganzer Deutlichkeit. Denn finnische Forscher fanden tatsächlich wirksame Bakteriophagen auch für dieses dritte Bakterium.
Weil jedoch in Finnland der gerade entwickelte Bakteriophagencocktail nicht legal im Handel erhältlich ist, versagt die Regierung von Unterfranken die Einfuhr mittels Tiefkühlbox über den Luftweg. Dem deutschen Patienten bleibt also nichts, als die weite mehrmalige Reise nach Finnland, um endlich von seinem Leiden befreit zu werden.
Tipp: Alle Infos, eine Plattform für Kontakte und neueste Informationen rund um die Phagentherapie vom 27. bis 28. Juni 2019 in Stuttgart findet man hier.