Ende einer Zugfahrt und Beginn eines neuen Kapitels Gleis 11
Das Gleis 11 am Münchner Hauptbahnhof ist auf den ersten Blick ein Gleis wie jedes andere. Unscheinbar, ganz am Rand, fast versteckt. Und gleichzeitig ist das Gleis für die Geschichte der ersten Arbeitsmigrantinnen die Landmarke schlechthin, die erste Station in Deutschland.
Für die meisten sogenannten Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter der ersten Generation war München die Station, in der alle aussteigen mussten und von wo aus sie an ihre Arbeitsorte quer über Deutschland verteilt wurden.
Am 28. August 1968, vor 53 Jahren, ist Sema Berthold am Gleis 11 des Münchner Hauptbahnhofs angekommen. "Ich kann mich noch ganz genau an den Tag erinnern. Es war so heftig und es macht mich traurig, wenn ich daran denke. Ich war sehr jung. 21 Jahre alt. Ich hatte meine Tochter in der Türkei zurückgelassen. Sie war nur eineinhalb Jahre alt. Und hier war alles so fremd. Nur traurige Gesichter. Alle haben auf den Boden geblickt. Das hat mich alles sehr traurig gemacht. Ich hatte etwas völlig anderes erwartet."
Direktzug. Begrüßung mit Megaphon. Tausende Kilometer weit weg von zuhause. "Ich wollte nicht nach Deutschland. Aber ich hatte mit 20 geheiratet und war kurz danach schon Witwe geworden. Ich hatte Angst, dass ich noch einmal verheiratet werden würde. Ich hatte gehofft, dass ich in Deutschland mehr Freiheit haben werde. Dass ich dann meine Tochter hinterher holen und hier arbeiten kann. Aber das hier in Deutschland war nicht Freiheit, wie ich sie mir vorgestellt habe."
Es war ein kalter Empfang. Und sie hatte so viel zurückgelassen. "Wir wurden mit einem Lautsprecher empfangen und jeder hat eine Nummer bekommen. Dann wurden wir nach unten in den Bunker unter dem Gleis 11 gebracht. Wir saßen auf dem Boden. Es wurde Brotzeit verteilt. Eine Tüte mit einer Semmel. Auf der Tüte: ein durchgestrichenes Schwein. Also: ohne Schweinefleisch."
Bevor sie nach Deutschland kam, gab es die gesundheitliche Untersuchung. "Besonders gestört hat mich, dass sie nach unseren Zähnen geschaut haben. Ich bin mir vorgekommen wie ein Pferd oder eine Kuh auf dem Basar."
Nur die Arbeitskraft zählte. Hat sie es bereut nach Deutschland gekommen zu sein? "Die ersten Jahre lang: sehr. Ich habe lange daran gedacht zurückzukehren. Bis vor zehn Jahren wollte ich zurück. Aber jetzt nicht mehr. Ich habe jetzt zwei Heimaten. Doch die Türkei ist eher fremd für mich geworden."
Am Gleis 11 endete damals ihre Reise. Endeten Träume. Und ein neues Leben begann, zu dem auch ihre nachgekommene Tochter zählt.