20 Jahre Anerkennung der Deutschen Gebärdensprache
Am 27. April 2002 wurde die Gebärdensprache in Deutschland offiziell anerkannt. Nach jahrelangen Kämpfen ein echter Durchbruch aus Sicht der Gebärdensprachgemeinschaft. Und heute, 20 Jahre später? Hat sich der erhoffte Durchbruch in der Gesellschaft eingelöst? Sehen statt Hören trifft auf drei unterschiedliche Menschen und deren Wünsche.
Am 27. April 2002 trat das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft. In diesem Gesetz steht im § 6 der entscheidende Satz, für den viele Gehörlose in Deutschland lange gekämpft haben: "Die Deutsche Gebärdensprache ist als eigenständige Sprache anerkannt."
Doch das Bundesgesetz kam nicht ganz von alleine. Es waren vor allem die Behindertenverbände, die sich für ihre Rechte stark gemacht haben.
So wurde das Benachteiligungsverbot – wonach niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf – 1994 im Grundgesetz verankert.
Ein paar Jahre später 1999 wurde im Berliner Abgeordnetenhaus das Landesgleichberechtigungsgesetz verabschiedet, in dem erstmalig die Gebärdensprache anerkannt und der Anspruch auf Dolmetscher festgehalten wurde. Die anderen Bundesländer zogen mit ihren Gleichstellungsgesetzen nach.
Die Deutsche Gebärdensprache ist also längst anerkannt. Doch fühlt es sich für die Gebärdensprachgemeinschaft auch praktisch und im Alltag so an?
Drei Menschen und ihre Erfahrungen
Olaf Tischmann wird in seiner Kindheit noch bestraft, wenn er beim Gebärden in der Schule erwischt wird. Als er älter ist, spielt er Theater - doch auch das ist nicht wirklich schön: Sie alle sind gezwungen einen lautsprachlichen Text mit passenden Gebärden zu begleiten - Gebärdensprache ist das nicht.
Weil er etwas ändern will, kämpft er darum, Lehrer werden zu dürfen und studiert schließlich in Hamburg Gehörlosenpädagogik - als erster Gehörloser in Deutschland. Die Entscheidung für Hamburg kommt nicht von ungefähr, denn dort ist das Institut für Deutsche Gebärdensprache, an dem die DGS linguistisch erforscht wird.
"Mein Ziel war es, Lehrer zu werden. Die gehörlosen Kinder warteten schon. Ich wusste, wie es ist, nicht richtig kommunizieren zu können."
Olaf Tischmann
Das, was sich Olaf Tischmann von der Gesellschaft wünscht, ist: Bildung für alle und damit Chancengleichheit.
Matthias Reinhardt kommt aus Würzburg und steht kurz vor dem Abitur am Rheinisch-Westfälischen-Berufskolleg in Essen. Dort ist er im Internat untergebracht. Für ihn sind die Erfahrungen heute ganz andere als für Olaf Tischmann damals, er unterhält sich mit seinen Freunden ganz selbstverständlich in Gebärdensprache:
"Ich war immer mit Gehörlosen zusammen, im Kindergarten, in der Grund- und Realschule und hier beim Abitur. Das war sehr wertvoll. In meiner Klasse waren andere, mit denen ich mich als Peer identifizieren konnte. Eine inklusive Beschulung kam für mich nicht in Frage. Ich wäre alleine, ohne andere Gehörlose gewesen.. Das hätte ich nicht gepackt. Die Gehörlosenkultur ist wichtig für mich. Sie ist schön und muss erhalten bleiben."
Matthias Reinhardt
Trotzdem hat Matthias nicht das Gefühl, dass für seine Generation alles passt:
"In der Gesellschaft von Hörenden sind wir noch nicht angekommen. Es ist noch nicht so toll. Man bekommt oft noch mit Mitleid und das 20 Jahre nach Anerkennung der Gebärdensprache. Wir bekommen immer noch Mitleid, Trost und Fürsorge. Das brauchen wir nicht. In der Schule oder im Beruf werden uns Sachen abgesprochen. Wir können alles, außer hören. Das ist das Einzige. Das hätte sich schon ändern können, nach 20 Jahren. Schade."
Matthias Reinhardt
Lehrkräfte mit hoher Gebärdensprachkompetenz sind in Deutschland noch immer selten. Gehörlosenschulen müssen noch einige Anstrengungen unternehmen, um sich voll und ganz auf die Bedürfnisse ihrer Schüler einzustellen. Ein Studium stellt viele Gehörlose vor andere, große Herausforderungen. Für Matthias persönlich bedeutet dieser neue Lebensabschnitt: Er wird zum ersten Mal vollkommen unter Hörenden sein - mit Hilfe von Dolmetschenden.
Matthias und seine Klassenkameraden wünschen sich Aufklärung: "Die Hörenden sollten schon in der Schule etwas über Gehörlose und ihre Kultur lernen. Es sollte damit auch selbstverständlicher werden, dass Gehörlose gleichberechtigt sind - ob in der Schule, im Studium oder in der Arbeit."
Julia Probst wird Bayerns erste Gehörlose, die in einen Stadtrat einzieht. Sie ist im Kreisverband der Grünen in Neu-Ulm und wird in Weißenhorn für eine Kollegin nachrücken. Sie verfolgt schon lange das Ziel, Politik mitzugestalten.
"Am Anfang dachte ich, dass es ein großes Problem mit der Dolmetscherfinanzierung geben könnte. Dann hatte ich ein Gespräch mit der Stadtverwaltung, mit der Frage, wer die Bezahlung für die Dolmetschenden übernimmt und wie das laufen wird? Die Antwort war, dass sie vom Gesetz her für die Übernahme der Kosten verantwortlich sind. Das hat mich erstmal beruhigt. Damit war ein Punkt schon mal abgehakt. Dann habe ich aber überlegt, wie es mit den Fraktionssitzungen sein wird. Das läuft über das Persönliche Budget. Und das ist nicht so einfach mit dem Antrag."
Julia Probst
Julia hofft künftig auf politische Teilhabe - ohne dass gehörlose Politiker etwas Besonderes sind.
5 Fragen für Hörende - ein Quiz mit Ace
Hörende Passantinnen und Passanten sollen ein paar Fragen beantworten, die Aufschluss darüber geben, was sie über Gehörlosenkultur und Gebärdensprache etwas wissen. Zum Beispiel, ob es Dialekte in der Gebärdensprache oder gehörlose Politiker*innen im Bundestag gibt.
"Das war wirklich interessant. Ich hatte es ja schon fast geahnt, dass da nicht so viel Wissen über unsere Sprache und Kultur vorhanden ist. Was bedeutet das also? Unsere Rechte sind in Gesetzen verankert und sie sind wichtig für uns, reichen aber scheinbar nicht, um ein stärkeres Verständnis für unsere Sprache und Kultur zu erreichen. Wir müssen also noch mehr dafür sorgen, dass im Alltag und in der Öffentlichkeit unsere Sprache und Kultur für Andere sichtbar wird. Das ist auch sehr wichtig."
Ace Mahbaz