Barrierefreiheitsstärkungsgesetz Barrierefreie Produkte und Dienstleistungen ab 2025
Dieses neue Gesetz soll private Wirtschaftsakteure dazu verpflichten, ihre Produkte und Dienstleistungen ab dem 28. Juni 2025 an Endverbraucher barrierefrei anzubieten. Welche Veränderungen ergeben sich aus diesem Gesetz für gehörlosen Menschen?
Steffen Helbing vor einem Bankautomaten
In der Praxis stoßen viele Menschen permanent auf Barrieren: Rollstuhlfahrende wie Steffen Helbing können das Monitorbild eines Bankautomaten nicht erkennen und deshalb nicht ohne Hilfe Geld abheben. In seiner näheren Umgebung gibt es sogar einen absenkbaren Bankautomaten: Der Weg dorthin beinhaltet allerdings Treppen und hat keine barrierefreie Alternative.
Familie Sailer im Gespräch mit Thomas Zander
Sehen statt Hören-Moderator Thomas Zander hat aber auch Familie Sailer getroffen: Sie wollten mit den Kindern eine Sommerrodelbahn in Bayern fahren, doch an der Kasse wurde ihnen das verwehrt. Die Begründung lautet, dass eine Aufklärung über die Regeln auf der Bahn in Gebärdensprache nicht zur Verfügung stand und die Mitfahrt deshalb aus Sicherheitsgründen nicht gestattet worden ist.
Auch Frank Reinsch ist – weil er nicht hören kann – bei einer Online-Identifikation mit Personalausweis gescheitert:
"Ich wollte hier für den Gehörlosenverband eine Banksache erledigen. Statt in der in der Filiale in der Warteschlange zu stehen gibt es da dieses neue Verfahren mit Kamera. Prima! Aber da soll ich mich mit dem Personalausweis identifizieren und da hapert’s! Ich sagte, ich sei taub. Da hat der Mitarbeiter das Video einfach ausgeschaltet. Das verstehe ich nicht. Ich habe einen Dolmetscher geholt, um das zu klären, aber das ging aus Datenschutzgründen nicht. Das ist echt ein Problem! Dazu kommen die schwer verständlichen Formulierungen. Manchmal bin ich mir da nicht sicher und wenn ich was falsch beantworte, werde ich wieder nicht akzeptiert. Ich weiß auch nicht… Jetzt muss ich doch wieder persönlich in die Filiale gehen und versuchen mit Zettel und Stift mit den Mitarbeitern dort schriftlich zu kommunizieren. Das nervt!"
Frank Reinsch, Gehörlosenverband Berlin e.V.
Das neue Gesetz soll nun also Firmen, Dienstleiter und Institutionen zu Barrierefreiheit verpflichten. Christiane Möller ist Justiziarin des Deutschen Blinden- und Sehbehinderten-Verbands. Sie hat sich intensiv mit den Inhalten des neuen Barrierefreiheitsstärkungsgesetz auseinandergesetzt: Das Gesetz sei nur zustande gekommen, weil eine europäische Richtlinie Deutschland dazu verpflichtet habe, Barrierefreiheit für bestimmte Produkte und Dienstleistungen jetzt auch in deutsches Recht umzusetzen.
"Das Gesetz bezieht nur bestimmte Produkte und Dienstleistungen ein. Das Thema Gebärdensprache kommt nur ein einziges Mal im Gesetz vor: Nämlich dass man, wenn man sich beschweren möchte, bei der Marktüberwachungsbehörde in Gebärdensprache kommunizieren kann. Das hätte aber nicht extra im Gesetz stehen müssen. Das war ohnehin schon rechtlich geregelt und ist sozusagen nur eine Klarstellung."
Christiane Möller, Justiziarin beim Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband e.V.
Auf das Beispiel mit den nicht absenkbaren Bankautomaten weiß sie:
"Mit den Bankautomaten gibt es noch ein weiteres großes Problem: Wir haben nämlich sehr, sehr lange Übergangsfristen für alle Selbstbedienungs-Terminals. Das heißt praktisch, wenn eine Bank im Juni 2025 noch einen Geldautomaten aufstellt, der eben nicht barrierefrei zugänglich ist. Dann darf der da auch erstmal stehen bleiben – im Zweifel sogar bis 2040 – was natürlich ein Wahnsinn ist. Ich weiß gar nicht, ob wir bis dahin überhaupt noch Bargeld haben."
Christiane Möller
Der Bundesbehindertenbeauftragte Jürgen Dusel antwortet:
"Also nicht nur die Behindertenverbände haben das kritisiert, sondern ich habe das auch kritisiert. Im Gesetzgebungsverfahren bin ich ja aufgerufen, mich zu beteiligen. Ich habe das wirklich kritisiert: Ich finde die Übergangsfristen wirklich auch zu lang. Aber Sie können sich ja vorstellen, woher der politische Druck auch kam: Es gab Wirtschaftsverbände, die manchmal den Eindruck haben, als würde der Untergang des Abendlandes drohen, wenn man private Anbieter zu mehr Barrierefreiheit verpflichten würde. Ich erinnere nur an die Debatte vom Mindestlohn: Da haben auch viele gesagt, wenn das kommt, dann wird es ganz furchtbar werden. Es ist natürlich überhaupt nicht furchtbar geworden – im Gegenteil! Also es war letztlich ein Kompromiss. Ich glaube, wir haben jetzt die Chance in dieser Legislatur und auch mit dieser Koalition, da nochmal besser zu werden."
Jürgen Dusel, Bundesbehindertenbeauftragter
Sehen statt Hören-Moderator hakt noch einmal nach: Wie kann es sein, dass ein barrierefreier Geldautomat nicht barrierefrei erreichbar ist?
"Das ist wirklich kaum zu vermitteln, dass man auf der einen Seite einen Bankautomat hat, der barrierefrei ist aber die bauliche Umgebung nicht barrierefrei ist. Deswegen hat mein Team und ich gerade in diesem Gesetzgebungsverfahren immer wieder gesagt: Es ist Nonsense, wenn man das nicht mit einbezieht. Also wenn man die bauliche Umgebung nicht mit einbezieht. Jetzt hat der Deutsche Bundestag anders entschieden. Aber wir werden da noch mal ranmüssen. Das ist ja im Grunde fast ein bisschen zynisch, man sagt: Der Geldautomat ist barrierefrei, aber man kommt nicht ran. Und ich will’s nochmal deutlich sagen: Ich glaube Unternehmen sind gut beraten, die Barrierefreiheit endlich als Qualitätsmerkmal zu verstehen."
Jürgen Dusel, Bundesbehindertenbeauftragter
Bereiche wie das Online-Banking oder die Online-Identifikation werden ab 2025 per Gesetz barrierefrei sein müssen. Was das Problem von Familie Sailer betrifft, weiß Christiane Möller:
"Diese Bereiche sind nicht vom Barrierefreiheitsstärkungsgesetz umfasst. Zumindest nicht für diesen Bereich, der jetzt hier relevant war. Also das heißt, was schon abgedeckt wäre, wenn jetzt die Familie z. B. erstmal die Tickets kaufen möchte im Internet – dann ist dieses Rechtsgeschäft, was da abzuschließen ist, grundsätzlich erstmal vom Barrierefreiheitsstärkungsgesetz umfasst. Allerdings wird die Rodelbahn wahrscheinlich ein Kleinstunternehmen sein und hat deshalb Möglichkeiten, sich da herauszuwinden. Aber letztendlich die Problematik, dass Menschen mit Höreinschränkungen nicht mitgenommen werden, die ist überhaupt gar nicht vom Barrierefreiheitsstärkungsgesetz umfasst. Das wäre eine Frage des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, also: Findet hier eine Diskriminierung von tauben Menschen statt? Und das müsste tatsächlich über das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz geklärt werden. Und eben die Frage, ob sozusagen dieser Verweis auf die Sicherheit ein vorgeschobener Grund war oder eben nicht? Und das müsste im Zweifel ein Gericht klären."
Christiane Möller
Auch Ralph Raule, DGB-Beauftragter für Medien und Digitalisierung, hat sich mit dem neuen Gesetz beschäftigt. Er ist überzeugt: Es betrifft alle. Wenn zuvor Barrierefreiheit nur für Behörden galt, sei künftig jede etwas größere Firma (mit mehr als 10 Mitarbeitenden oder mehr als 2 Millionen Euro Umsatz) in der Verantwortung, Erklärungen, Anleitungen oder Beschreibungen zu den Produkten in Gebärdensprache anzubieten.
"Für die meisten anderen Menschen mit Behinderungen geht es da mehr um die Nutzbarkeit von Produkten und Dienstleistungen. Für uns gehörlose Menschen fängt es schon einen Schritt vorher an: Die Kommunikation darüber, WIE das Produkt benutzt werden kann, muss barrierefrei sein. Z.B. Texte, die erklären, wie etwas zu benutzen ist. Der Deutsche Gehörlosenbund fordert, dass diese Texte leicht verständlich sein müssen – also in leichter Sprache – aber auch, dass Übersetzungen in Deutscher Gebärdensprache vorhanden sein müssen."
Ralph Raule, DGB-Beauftragter für Medien und Digitalisierung
Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz soll 2025 in Kraft treten und damit Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen im privatwirtschaftlichen Umfeld verhindern. Es bleibt jedoch unklar, wie das geschehen soll. In der nächsten Zeit werden sicher noch einige Bestimmungen erarbeitet werden, um für die Bedürfnisse der Menschen mit Behinderung zu sensibilisieren und die Regelungen daran anzupassen. Die Menschen, mit denen wir in diesem Film gesprochen haben, sagten alle, dass dieses Gesetz noch nicht die nötige Durchschlagskraft hat, also noch zu schwammig ist – obwohl es "Stärkung" als Ziel im Namen trägt. Es sind also in nächster Zeit noch Verbesserungen notwendig.