Best of Die Deutschen Kulturtage der Gehörlosen 1993 bis 2018
In diesen Tagen treffen sich in Friedrichshafen wieder viele Gehörlose zu den 7. Kulturtagen. Auf sechs Kulturtage kann die Community schon zurückblicken – und die Zeitreise erstreckt sich über drei Jahrzehnte. Anke Klingemann blickt zurück auf einige Höhepunkte und die Geschichte dieses besonderen Festivals.
Über 30 Jahre ist es her, dass sich in Hamburg erstmals die Gehörlosenszene zu Kulturtagen getroffen hat.
Jeder verbindet sicher ganz eigene Erinnerungen mit den Kulturtagen in Hamburg (1993), Dresden (1997), München (2001), Köln (2008), Erfurt (2012) oder Potsdam (2018).
Rückblickend kann festgestellt werden, dass Hamburg für die Gehörlosengemeinschaft historisch und kulturell immer ganz besonders bleiben wird: Hier wurde ein wichtiger Raum geschaffen, an dem sich Gehörlose treffen und sich ihrer eigenen Kultur, Identität und Sprache bewusst werden konnten. Heute würden man vielleicht sagen: In Hamburg wurde die Basis für ein Empowerment der Community geschaffen.
Hamburg 1993 – Debüt mit großer Demo
Damals im Jahr 1993 hatten die Besucher ein ganz großes Anliegen: Es ging um den Kampf für die Anerkennung der Gebärdensprache – große Demo inklusive. Dieses Ereignis ist den Teilnehmenden im Gedächtnis geblieben, die Bilder lösen noch heute Gänsehaut aus.
Ulrich Hase, 1993 Präsident des Deutschen Gehörlosenbund e.V., hat damals formuliert, was der Community so sehr auf der Seele brannte: Die Gebärdensprache ist eine richtige Sprache, gleichberechtigt mit der Sprache der Hörenden. "Wir wünschen uns beide Sprachen: Gebärdensprache und Lautsprache. Die sind gleich wichtig und gleichberechtigt", schloss er seine flammende Rede. Und die hat ihre Wirkung nicht verfehlt. "Diese Demo war unglaublich und von Uli diese klaren Forderungen… wie Paukenschläge. Ich war hin und weg. Das hat sich so fest bei mir eingeprägt", sagt Prof. Christian Rathmann von Humboldt Universität Berlin noch heute.
Die Demo war der absolute der Höhepunkt der ersten Kulturtage. In Hamburg passierte aber auch etwas anderes. Heute würde man sagen: Hier wurde der Grundstein für ein Deaf Empowerment gelegt. Taube Personen bekamen einen Ort, an dem sie ihre Kultur zeigen und sich austauschen konnten.
Und noch etwas war neu: Zum ersten Mal wurde der Kulturpreis verliehen. Als besondere Auszeichnung und Wertschätzung für Menschen, die sich für die Gehörlosengemeinschaft engagieren.
Dresden 1997 – Diskussion und politische Forderungen
Vier Jahre später, 1997, traf man sich dann zu den 2. Kulturtagen in Dresden. Uli Hase kämpfte als DGB-Präsident unermüdlich weiter für die Anerkennung der Gebärdensprache. Bei der Podiumsdiskussion „Setzt Politik Zeichen?“ fand er wieder klare Worte.
"Was ich mir wünsche, ist, dass die Politiker stärker auf Seiten von uns Betroffenen stehen. Wir sind die Menschen, um die es geht. Wir kennen unsere Probleme. Wir sind erwachsene Menschen, mündige Bürger. Und darum bitte ich Sie: Fragen Sie nicht mehr die Ärzte oder die Lehrer, was Gehörlose brauchen. Sie sehen hier erwachsene Menschen vor sich. Wir wissen genau, was unsere Erfahrungen sind. Wir haben unsere eigene Perspektive. Und das Problem ist, dass das immer zuletzt gesehen wird."
München 2001 – erste Erfolge, interner Austausch
Ein paar Jahre dauerte es noch – aber zum 1. Juli 2001 wurde schließlich die Deutsche Gebärdensprache im Sozialgesetzbuch IX offiziell anerkannt. Ein wichtiger Schritt ist geschafft. Das Motto der Kulturtage Anfang September in München lautet daher passend: „Eine Kultur findet Anerkennung“.
Doch ist damit das politische Ziel der Gehörlosengemeinschaft schon erreicht? Auch hier findet Uli Hase die richtigen Worte: Die Kugel wäre ins Rollen gekommen. Doch noch stünden viele Veränderungen bevor. „Für mich ist es keine Frage, dass bis 2003 die Durchsetzung der Landesgleichstellungsgesetze erfolgt sein wird. In anderen Bereichen wir Fernsehen oder Schule müssen wir wohl noch länger um Verbesserung kämpfen. Aber sonst ist vieles schon erreicht.“
Bei den Kulturtagen 2001 in München konnte auch dementsprechend gefeiert werden. Zwei Wochen vor der offiziellen Eröffnung des Münchner Oktoberfestes feiern die Gehörlosen ihren eigenen bayerischen Festabend im Schottenhamel. Und hier ist nun eine neue Person an der Spitze des Deutschen Gehörlosenbundes: Mit Gerlinde Gerkens ist zum ersten Mal eine gehörlose Frau due Präsidentin. In Sachen "politische Diskussion" sollte bei dieser Veranstaltung erstmals eine Verschnaufpause eingelegt werden. "Im Moment brauchen wir Raum für Gespräche innerhalb der Gehörlosengemeinschaft. Das nächste Ziel, da wird’s dann wieder politisch, ist die Durchsetzung des Gleichstellungsgesetzes und der vollständigen Anerkennung der Gebärdensprache. Im Moment ist nur ein Teil davon erreicht", erklärte damals Gerlinde Gerkens.
Köln 2008 – geschichtliche Aufarbeitung und Forderung nach Untertitelung
Sieben lange Jahre vergingen, bis die nächsten Kulturtage stattfanden – 2008 in Köln. Das große Ziel, die Anerkennung der DGS, hat sich 2002 endlich erfüllt. Ist jetzt also alles gut? In den Gesetzbüchern steht es geschrieben, jetzt fehlt noch die praktische Umsetzung. "Rein formal haben wir Ansprüche und Rechte, aber wenn es darum geht, welches Amt zuständig ist, und wo man Anträge auf Dolmetscherkosten stellt, ist vieles nicht geregelt. Im Bereich Schule und Bildung allgemein hat Gebärdensprache noch nicht Einzug gefunden. Erst wenn überall Gebärdensprache eingesetzt wird, bin ich zufrieden", erklärte damals Ludwig Herb.
Auch wenn die Anerkennung der DGS noch nicht abschließend geregelt ist, stehen bei den Kulturtagen 2008 andere Themen im Vordergrund. Seit 2005 ist Alexander von Meyenn neuer Präsident des Deutschen Gehörlosenbundes. Während seiner Amtszeit findet eine grundlegende Auseinandersetzung mit der Geschichte des DGB statt. Auch mit den finsteren Kapiteln des Nationalsozialismus. Es sind insgesamt etwa 6.000 gehörlose Juden ermordet worden. "Jetzt ist die Zeit gekommen um Versöhnung zu bitten. Und zwar um Versöhnung zu bitten für schlimme Taten, die an den jüdischen Gehörlosen in Deutschland begangen wurden. Der Deutsche Gehörlosenbund hat sich schon in der Vergangenheit für die Taten des ReGeDe, des Reichsverbands der Gehörlosen in Deutschland entschuldigt und hat gesagt, dass er diese Taten nicht mitträgt und bedauert", betonte Meyenn. Eine große Geste.
Neben der wichtigen geschichtlichen Aufarbeitung wurde in Köln auch wieder demonstriert. Nach Meinung von Alexander von Meyenn ist Öffentlichkeitsarbeit ein Schwerpunkt von Kulturtagen. 7.000 Menschen demonstrierten für ein "Recht auf 100 Prozent Untertitel in allen deutschen Fernsehsendern“ und damit gegen die Diskriminierung aller Menschen mit Höreinschränkungen.
2008 gab es in der breiten Medienlandschaft Deutschlands nur vereinzelte Angebote mit Untertitelung. Bis zur Demo in Köln hatten die Veranstalter mehr als 150.000 Unterschriften gesammelt, die an den damaligen Vorsitzenden der Rundfunkkommission der Länder, Kurt Beck, übergeben wurden. Am Tag vor der Demo kam plötzlich Bewegung in die Medien: Der WDR veröffentlichte eine Pressemitteilung mit der Ankündigung, den Anteil der Untertitelung bis 2009 zu verdoppeln. Heute liegt die Untertitelquote in der ARD bei nahezu 100 %. Das beweist, dass Proteste und Demonstrationen durchaus etwas bewirken können.
Erfurt 2012 – Öffnung der Gehörlosenkultur für alle
2012 finden die Kulturtage in der Messe Erfurt statt, also am Rande der Stadt. Um mehr mit den hörenden Menschen in Kontakt zu kommen, wird auf dem Wenigemarkt ein Straßenfest organisiert. Hörenden soll damit der Zugang in die Gehörlosenkultur ermöglicht werden.
Es offenbarte sich ein Dilemma: Auch wenn sich die Gehörlosengemeinschaft für Hörende öffnen will – so richtig funktioniert das nicht. Hörende Menschen kamen nur selten zur Veranstaltung. "Deshalb ist es wichtig, dass wir auch nach draußen gehen und uns zeigen, dass wir gesehen werden. Dann sind hörende Menschen auch bereit, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Wenn wir humorvoll und sympathisch auftreten, fangen die Menschen an, nachzufragen und wir können Öffentlichkeitsarbeit machen, die in den Köpfen der Leute ankommt", lautete das Fazit von Helmut Vogel, der 2014 Präsident des DGB wurde.
2018 Potsdam – gemeinsame Wege beschreiten
Das Motto 2018 In Potsdam lautete dann "Inklusiv und gleichwertig“ und sollte auf die Gleichstellung tauber Menschen in der Gesellschaft hinwirken. Mauer abbauen war die Prämisse. So wurde auch diskutiert, ob der Begriff “gehörlos” heute noch zeitgemäß ist. Und so war schon das Motto „inklusiv und gleichwertig“ war für einige falsch gewählt – das impliziere sofort, dass es dabei um eine Behinderung gehe und Menschen, die bemitleidenswert wären. Aus dieser Ecke wolle man raus. Man möchte sich öffnen – auch kulturell gemeinsame Wege beschreiten.
Die Kulturtage sind immer auch ein Spiegel der gesellschaftlich relevanten Themen für die Gehörlosengemeinschaft. Waren die ersten Jahre eindeutig vom gemeinsamen Kampf um die Anerkennung der DGS geprägt, zeigte sich spätestens in Potsdam 2018, dass die Themen breiter und vielschichtiger werden und dass es ganz unterschiedliche Forderungen gibt.
Friedrichshafen 2024?
Das Motto der 7. Kulturtage, die gerade in Friedrichshafen stattfinden, lautet: „Eine Kultur überwindet Grenzen“. Ob damit auch die Grenzen zwischen tauben und hörenden Menschen gemeint sind? Oder sind die Landesgrenzen Deutschland, Schweiz, Österreich Thema?
Das findet Sehen statt Hören mit Jason in zwei Wochen heraus.