Erst fremd dann vertraut Wie interkulturelle Herausforderungen gelingen
In Deutschland leben Menschen aus aller Welt, rund ein Viertel der Bevölkerung hat einen Migrationshintergrund und damit eine andere Kultur. Für eine eigene Kultur braucht es nicht unbedingt eine andere Herkunft, auch Gehörlose haben ihre Sprache, Kultur und Identität. Sehen statt Hören trifft auf drei ganz unterschiedliche Konstellationen und Menschen, die mit der Herausforderung umgehen, trotz unterschiedlicher kultureller Hintergründe, Werte und Traditionen offen und tolerant den anderen gegenüber zu sein – oder zu werden.
Von den rund 83 Millionen Einwohnern in Deutschland haben fast 24 Millionen Menschen einen Migrationshintergrund. Kein Wunder also, dass auch jede fünfte feste Beziehung inzwischen interkulturell ist: Moslems lieben Christen, Europäer Afrikaner und Taube Hörende. Doch der Weg zum Glück ist für interkulturelle Paare und Familien nicht immer einfach.
CUI & YING
Ying ist in China zur Welt gekommen – im Osten des Landes. In der Stadt Changzhou hat sie eine Gehörlosenschule besucht, machte einen Hochschulabschluss – und ging 2005 als Nachrichtensprecherin in Gebärdensprache zum Fernsehen. "In China war ich die einzige Gehörlose, die das gemacht hat", erinnert sie sich. Damit war ihr ehrgeiziger Weg nicht zu Ende: Ying studierte noch einmal. An einer Uni für Hörende belegte sie den Studiengang Verwaltungsmanagement – eine harte Zeit, aber sie biss sich bis zum Bachelor-Abschluss durch. 2015 ließ sie Freunde und Familie zurück – und ging nach Deutschland.
Auch Cui stammt aus China. Als Dolmetscherin für International Sign lernte sie viele gehörlose Leute aus anderen Ländern kennen – vorrangig aus den USA und Europa. Von ihnen erfuhr sie, dass man in anderen Ländern mit Homosexualität anders umgeht als in China. Cui ist lesbisch – nicht ganz einfach in ihrer Heimat. So entschloss sie sich schließlich, ein Visum zu beantragen. Ihr Ziel: Deutschland.
Mit großer Motivation in die Fremde
Ying, Cuis Lebensgefährtin war sich von Beginn an sicher, dass sie es schaffen würde in Deutschland. "Ich hatte mir schon vor meinem Umzug viele Gedanken gemacht, mich innerlich darauf vorbereitet, dass die Gesellschaft und das Leben hier ganz anders sein werden. Das wusste ich." Wie anders es war, hat sie dann schnell gemerkt: Die Straßen sind im Gegensatz zu chinesischen Verhältnissen leer, abends schlafen alle. "Das ist definitiv anders."
Sprache als Herausforderung
Die größte Herausforderung für Ying war allerdings die Sprache. Vor allem die Grammatik der Schriftsprache. Und dann kam da noch die Deutsche Gebärdensprache hinzu. "Hier sind Gebärdensprache und Schriftsprache aber so verschieden. Wirklich zwei total verschiedene Sprachen. Satzbau, Grammatik, ganz anders. Das musste ich wirklich lernen", sagt sie. Taube Menschen, die nach Deutschland kommen, wären da klar mehr gefordert als hörende. Doch Ying hat sich durchgebissen und fühlt sich mittlerweile sicher in der Deutschen Gebärdensprache.
Vielleicht waren es diese Anfangsschwierigkeiten, die Ying dazu brachten, sich bei Shahrzad zu engagieren – einem Verein, der sich besonders um gehörlose Geflüchtete und Migrant:innen kümmert. Hier arbeitet sie ich in der Sozialberatung und gibt inzwischen Gebärdensprachkurse in DGS.
Selbstbewusst und demokratisch
Es gibt aber auch Vieles in Deutschland, das Ying positiv sieht: Hier sei man selbstbewusster, man entscheidet selbst, lebt in einer Demokratie mit Meinungsfreiheit. In China gibt es bereits in der Familie eine starke Hierarchie, auch sonst passe man sich an und füge sich. Ying hat die deutschen Werte für sich übernommen – und fühlt sich nun als eine Mischung aus beiden Seiten. „Von der Ideologie her, meinen Werten, bin ich voll deutsch, selbstbewusst und demokratisch. Ich bin Teil beider Kulturen, der chinesischen und der deutschen. So fühle ich mich tatsächlich wohl und zuhause.“
Auch Cui passt sich an, hat die deutsche Kultur zu ihrer gemacht. „Aber klar, wenn ich meine Eltern wieder mal besuche, die eindeutig ihre chinesische Kultur leben, dann passe ich mich dort an. Das braucht auch Zeit“, sagt sie. „Das hat für mich auch mit Respekt für mein Gegenüber zu tun: Freundlich zu sein, Respekt zu haben.“ So lassen sich Unterschiede überwinden.
CLAUDIA & ALI
Vor 24 Jahren haben sich Claudia und Ali kennen- und lieben gelernt. Aufgewachsen sind die beiden in unterschiedlichen Ländern. Claudia, die in der vierten Generation gehörlos aufgewachsen ist, hat an der Gehörlosenschule ihr Abitur gemacht – und zwar in Bukarest, Rumänien. Ali wurde in der Türkei geboren und hat in Istanbul sein Abitur gemacht.
2016 wollte Ali versuchen, in Deutschland Arbeit zu finden – mit Erfolg. Doch Claudia zögerte noch, denn sie hat zu dem Zeitpunkt bereits 20 Jahre Berufserfahrung an einer Grundschule für gehörlose Kinder als Sozialpsychologin gesammelt. Elf Monate später traf sie die schwere Entscheidung und kam nach.
Auch Claudia hat Arbeit gefunden: In Deutschland arbeitet sie als Pädagogische Fachkraft an einer Offenen Ganztagsschule. Aktuell betreut sie 13 Kinder aus verschiedenen Kulturen und unterschiedlicher Hörschädigung. Und Ali? Der hat sich inzwischen auf Social Media einen Namen gemacht. 111.000 Leute folgen ihm allein auf Instagram. Dafür reist er viel, trifft weltweit viele taube Menschen und interviewt sie.
Angst hatten die beiden nicht vor dem Neuanfang in einem fremden Land. Obwohl die Kultur so anders ist, haben sich die beiden gut eingefunden. Sobald die Kommunikation klappt, klappt alles – ist sich Ali sicher.
Kommunizieren mit eigenem "Sprachsalat"
Und das mit der Kommunikation ist in der kleinen Familie schon eine Besonderheit: Claudias Muttersprache ist Rumänische Gebärdensprache, LSR. Ihre Zweitsprache ist TiD, Türkische Gebärdensprache - weil Ali Türke ist. Als drittes beherrscht sie International Sign und schließlich nun auch DGS. Was wird nun gebärdet bei den beiden? "Wir mischen. Wir harmonieren so gut miteinander und verstehen uns. Wir verstehen, was der andere sagt. Die Kommunikation stimmt. Es funktioniert. Es ist halt anders", sagt Ali. Zuhause nutzen die zwei ihren eigenen "Sprachsalat": Da ist aus jeder Sprache etwas dabei - und zwar aus der ganzen Welt. "Ich bin ja viel in anderen Ländern unterwegs und picke mir aus jeder Sprache das raus, was mir gefällt. Ich übernehme es und mische es", so Ali.
Claudia ist mittlerweile vollkommen angekommen in Deutschland. "Ich für meinen Teil war wie ein kleiner Baum. Ich bin umgepflanzt worden und habe dann lange Wurzeln entwickelt. Für mich ist Deutschland mein Zuhause. Es passt so wie es ist. Ich will hierbleiben." Ali hat sich noch nicht entschieden, ob er sich als deutsch bezeichnen würde. Er ist und bleibt wohl Weltenbummler.
LISA & LUDWIG
Es war Liebe auf den ersten Blick. Als Ludwig Lisa zum ersten Mal sah, hat er sich keine Gedanken darüber gemacht, dass sie hörend ist. Der gebürtige Freiburger ist taub – und verliebte sich in den Menschen Lisa. "Später, als wir uns mehr und tiefer kennenlernten, da merkte ich, dass der Hörstatus schon auch unsere Beziehung beeinflusst", sagt er. Kennengelernt haben sich die beiden in Berlin – hierher ist Ludwig vor 15 Jahren gezogen. Lisa ist gebürtige Berlinerin. Und die beiden haben mittlerweile einen Sohn: Levi.
Hörstatus als Hürde
Doch schon einige Monate nach dem Kennenlernen merkte Ludwig, dass Lisa als Hörende für Außenstehende die Ansprechperson in der Beziehung ist. "Da wurde mir bewusst, in unserer Beziehung müssen wir uns viel austauschen und viele Kompromisse finden, damit alle nicht immer nur sie anschauen, sondern auch mich sehen." Auch im Freundeskreis und der Familie ist das nicht unproblematisch. Lisa kann gebärden, ihre hörenden Freunde und Familie nicht. Es ist manchmal schwierig, Ludwig in diese Welt mitzunehmen. "Ich übernehme dann die Rolle der Dolmetscherin. Dabei verschwinde ich. Meine Erfahrungen, mein Alltag, meine Seele – es verschwindet dann. Und ich kann mich, Lisa, dann nicht öffnen." Sowohl Ludwig als auch Lisa fühlen sich dann nicht frei, wahrgenommen und unabhängig.
Ein kleiner Online-Lehrgang
Für die vorhandenen Kommunikationsprobleme wäre ein Ansatz, dass mehr Menschen Gebärdensprache lernen. Ein befreundeter hörender Nachbar kam auf die Idee: Er hat mit Ludwig zusammen ein Konzept entwickelt und einen Telegram-Kanal mit DGS-Vokabeln eröffnet. Jede Woche sollen so neue Vokabeln gepostet werden. "Ich habe gemerkt, dass jetzt schon viele Leute angefangen haben, Gebärden zu lernen", freut sich Ludwig. Es funktioniert also.
Und Sohn Levi? Er wächst bilingual auf - mit der Gebärdensprache und der Lautsprache. "Wenn wir drei zusammen sind, gebärden wir immer - am Tisch gebärden wir. Wenn die zwei allein sind, sprechen sie", sagt Ludwig. Die kleine Familie hat also einen Weg gefunden – und hat dementsprechend einen Tipp für gehörlos-hörend gemischte Paare: "Lasst euch durch die hörende Gesellschaft weniger beeinflussen. Lasst Ruhe in eure Familie, in euch als Paar einkehren und nehmt euch euren Raum."
EIN FAZIT
Interkulturelle Beziehungen und Herausforderungen gelingen, wenn man über eigene Grenzen hinausgeht. Wenn man offen und tolerant ist, viel lernt über sich selbst, viel nachdenkt und reflektiert. Wenn man bereit ist, Neues über ein anderes Land, eine andere Kultur, eine andere Sprache zu lernen. Wenn man bereit ist zur Empathie und Akzeptanz. Wenn man die eigene Art zu leben, zu denken, zu handeln auch mal in Frage stellen, Kränkungen emotional verarbeiten und Kompromisse aushandeln kann. Dann bietet sich die Chance, Unterschiede miteinander zu verbinden und daraus Neues entstehen zu lassen.