Ulrike und Andreas Gehörlos durch Contergan
"Contergan" – dieser Begriff steht für einen der größten Medizinskandale in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Vor mehr als 60 Jahren kam das Präparat auf den Markt und wurde wegen seiner beruhigenden und schlaffördernden Wirkung vor allem an Schwangere verkauft. Millionenfach und rezeptfrei. Mit dramatischen Folgen.
Im Oktober 1957 kann man Contergan erstmals in deutschen Apotheken kaufen. Das Schlaf- und Beruhigungsmittel gilt als vollkommen unbedenklich. Besonders Müttern in den ersten Schwangerschaftsmonaten könne es helfen – auch gegen die Übelkeit, heißt es. Ein fataler Irrtum. Wie sich später herausstellt: Oftmals reicht eine einzige Tablette, um den Fötus zu schädigen. Immer mehr Säuglinge mit verstümmelten Armen und Beinen werden geboren, teilweise fehlen ganze Gliedmaßen. Aber auch Taubheit wird durch Contergan verursacht. Weltweit werden etwa 10.000 contergangeschädigte Kinder geboren.
Ulrike
Eines davon ist Ulrike. Sie hat keine Ohren – von Geburt an. Eine Folge von Contergan. Ihre Mutter hatte eine einzige Tablette auf Rat ihres Ehemannes eingenommen, gegen ihre Beschwerden.
"Erst bei der Geburt hat man die Folgen gesehen. In der Schwangerschaft hatte sie keine Schmerzen, war nicht krank, gar nichts. Bis zur Geburt war alles ganz normal."
Ulrike
Das war im Jahr 1960. Erst mit etwa 10 Jahren fällt Ulrike, Jüngste von drei Geschwistern, selbst auf, dass ihre Ohren fehlen. 1966 wird Ulrike eingeschult. Erst hier, in der Gehörlosenschule, trifft sie andere Contergan-Geschädigte. Sie findet gute Freundinnen. Manchmal – gerade in der Pubertät - hadert Ulrike jedoch mit ihrem Schicksal, macht der Mutter Vorwürfe, sie sei schuld an ihrer Behinderung. Doch sie nimmt ihre Beeinträchtigungen schließlich an – nachdem einer ihrer Onkel nichts unversucht gelassen hatte, gemeinsam mit Ärzten Ulrikes Hörvermögen herzustellen.
Ulrike bekommt bis zum Lebensende eine monatliche Entschädigung. Doch durch ihre Knieprobleme –als Kind ist sie wegen ihres fehlenden Gleichgewichtsorgans häufig gestürzt – und anderen Folgeschäden, geht sie frühzeitig in Rente. Die körperliche Arbeit als Reinigungskraft wird schlichtweg eine zu große Belastung. Sie hat ihr Leben so akzeptiert, wie es ist. Und mittlerweile denkt sie positiv.
"Ich für mich sehe das ganz locker. Klar, manchmal starren mich die Leute an. Sollen sie doch. Ich gehe trotzdem ganz unbeirrt meinen Weg. Ja, ich habe mir da ein dickes Fell zugelegt. Wie eine Löwin, die aufrecht ihren Weg geht."
Ulrike
Andreas
Andreas kommt mit verkürzten Armen und unterschiedlich langen Beinen zur Welt . Zudem ist er schwerhörig. Als er 1961 geboren wird, hat die Mutter tagelang keine Ahnung, was mit ihrem Neugeborenen ist.
"[…]Es war eine schwere Geburt gewesen. Und da hab ich gedacht, was könnte denn das sein? Dann haben sie ihn reingebracht und da war er ja schon ganz eingegipst. Am 9. Tag bin ich mitgefahren in die Klinik zum Eingipsen - und da hab ich das erst gesehen, dass er gar kein Ellenbogen hat, keine Schultern… Das war schon hart."
Andreas‘ Mutter
Dass Andreas keine Gehörgänge hat, wird erst später beim HNO-Arzt festgestellt. Da ist Andreas sechs Jahre alt. Überhaupt würde er "ein Blödel bleiben", sagt sogar ein Professor. Die Mutter aber glaubt an ihren Sohn. Ihr Credo: "Das Beste daraus machen".
Heute hat Andreas eine Familie, er arbeitet für den Deutschen Schwerhörigenbund. Er hat Geschichte und Politik studiert und sich schon sehr früh politisch engagiert. Er war der erste hörgeschädigte Politiker im Hessischen Landtag – und setzt sich hier für die Belange von Menschen mit Hörbehinderung ein.
Bis heute hat er mit seinen unterschiedlichen Beinlängen und den daraus resultierenden Problemen zu kämpfen. Nicht alle orthopädischen Leistungen werden zudem komplett von der Krankenkasse übernommen. Insgesamt ist Andreas aber zufrieden mit seinem Leben.
"[…]Konsequenzen wurden gezogen, man kann sich darüber streiten, ob sie ausreichend sind. […] Ich habe sozusagen den Waffenstillstand beschlossen und freue mich über jede Verbesserung, die angeboten wird. Und wenn ich ein Anliegen habe, weiß ich, dass die Conterganstiftung eine Anlaufstelle für mich ist.“"
Andreas
Zahlen und Fakten zu Contergan
Im Oktober 1957 kommt Contergan auf den Markt.