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1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland Das Hier und Jetzt tauber Jüdinnen und Juden

Jüdisches Leben in Deutschland geht weit zurück bis ins Jahr 321. Aus diesem Jahr stammt der erste Beleg für eine jüdische Gemeinde. Damit hat jüdisches Leben hierzulande schon eine ziemlich lange Tradition, genauer gesagt 1700 Jahre. Auch die deutsche Gehörlosengeschichte ist mit jüdischen Menschen verbunden. Sie gründeten Vereine, engagierten sich - und heute? Wie leben taube Jüdinnen und Juden jetzt in Deutschland und was bedeutet es für sie, jüdisch zu sein?

Von: Anne-Madlen Gallert (Film), Steffi Wolf (Online-Text)

Stand: 28.06.2023

Von den etwa 200.000 in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden sind rund 100 taub. Die meisten von ihnen kommen aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Einer von ihnen ist Mark Zaurov. Als Historiker hat er sich wissenschaftlich mit der "doppelten kulturellen Minderheit", wie er es nennt, auseinandergesetzt:

"Mein Konflikt besteht darin, dass ich beides bin: jüdisch und taub. Einerseits fühle ich mich in der jüdischen Gemeinschaft isoliert, werde durch die Kommunikationsbarriere ausgeschlossen und erfahre Audismus. Und in der Gehörlosengemeinschaft bin ich nur 'der Jude', der wiederum nicht dazugehört und ausgegrenzt wird. Somit bin ich Teil einer doppelten kulturellen Minderheit."

Mark Zaurov

Ohne Dolmetscher kann er dem Gottesdienst nicht folgen. Gesänge, Musik und laute Gebete spielen eine große Rolle - nur einmal konnte Mark Zaurov richtig teilhaben: "In Amerika war ich bei einem tauben Rabbiner zum Pessach eingeladen, wo in Gebärdensprache kommuniziert wurde. Dort wurden mir die Hintergründe, wie zu den Speisen beim Pessach in Gebärdensprache erläutert. Das war wohltuend."

Sich öffentlich als Jude oder Jüdin zeigen?

Sehen statt Hören-Moderator Ace Mahbaz

Sehen statt Hören-Moderator Ace Mahbaz merkt bei seinen Recherchen, wie groß die Angst vor antisemitischen Übergriffen ist. Die meisten Gehörlosen halten ihre jüdische Identität geheim. Außer Mark Zaurov, wollte niemand, der oder die in Deutschland wohnt, vor der Kamera erzählen, was es für sie oder ihn bedeutet, jüdisch zu sein. Eine Frau hat sich bereit erklärt, schriftlich und anonymisiert zu antworten:

"Ganz ehrlich! Es ist traurig, mich vor Menschen zu fürchten! Auch vor Menschen, die ich mag, aber gleichzeitig weiß ich, sie wissen dieses eine Geheimnis nicht. Wie würden sie dann reagieren? Ich habe schon ein paar Mal erlebt, dass aus guten Bekannten dann schnell Fremde wurden, als sie es erfuhren."

"Ich wünsche mir, offen meine Identität auszuleben. Ich wünsche mir, mir keine Gedanken zum Thema zu machen. Ich wünsche mir, dass ich gebärden kann, schaut, ich bin Jüdin. Und es ist nichts Besonderes. Und nein, ich habe keine Hakennase, sondern eine Stupsnase."

"Ja, ich habe des Öfteren mit Vorurteilen zu kämpfen, dass ich gut verdiene oder klug bin, weil ich jüdische Gene habe. Es falle mir alles in den Schoß. Ich muss mich rechtfertigen - wofür eigentlich?"

"Körperliche Übergriffe habe ich einmal erlebt. Da haben mich Nazis – vier junge Frauen – im Zug verprügelt, weil ich einen Davidstern trug. Dabei war es für mich nur ein kleiner Schmuck, ein schönes Geschenk von meinem Opa, ein Andenken an ihn."

Maor

Zwei in Israel lebende taube Juden haben uns ihre Erfahrungen von ihren Deutschland- und Europa-Reisen erzählt: Maor ist 28 und wurde vom Fahrer aus einem Taxi geworfen, weil er unbedarft auf die Frage, woher er komme, "Israel" geantwortet hat. Auch in sozialen Netzwerken wie Instaram erlebt er als Reaktion auf seine Posts antisemitischen Hass.

Liran

Liran wurde mit seinen Freunden von einer Party in Köln harsch ausgeschlossen - ebenfalls , weil er erzählt hat, dass er aus Israel kommt.

Körperverletzung, Bedrohung, Beleidigung, Sachbeschädigung

Laut Bundesinnenministerium gab es im vergangenen Jahr 2351 antisemitische Straftaten in Deutschland. Ein Anstieg von 15,7 Prozent. Es werden aber längst nicht alle Straftaten gemeldet – und auch nicht erfasst, aus welcher Richtung der Antisemitismus kommt. Ob aus dem rechten Spektrum oder aus anderen Richtungen. Die Dunkelziffer ist also vermutlich sehr viel höher.

Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus, kurz RIAS, dokumentierte 2020 allein für Berlin insgesamt 1004 antisemitische Vorfälle. Dazu zählen unter anderem Angriffe, Körperverletzungen, Bedrohungen, Beleidigungen und gezielte Sachbeschädigungen.

Sich in Deutschland öffentlich als Jude oder Jüdin zu zeigen, davor schrecken hier die allermeisten zurück. Gehörlose, die in Israel leben, sind offener. Yaroslava ist in der Ukraine geboren:

"Als ich elf war, sind wir nach Deutschland gezogen, nach München. Vor knapp drei Jahren bin ich dann nach Israel gezogen. Damals in der Ukraine: Meine Oma und mein Opa waren jüdisch und damit automatisch auch meine Mutter. Als Kind war mir das nicht bewusst, dass wir jüdisch sind. Erst als wir nach Deutschland emigrierten, wurde mir das klar. Ich war ja mit elf noch ein Kind. Ich fragte meine Mutter, warum wir auswandern durften, die russischen Freunde von mir durften es aber nicht. Nur Leuten mit deutschen oder jüdischen Wurzeln war die Ausreise gestattet. Erst da hab‘ ich eigentlich wirklich erfahren, dass wir jüdisch sind und dass wir deshalb nach Deutschland, Amerika oder Israel auswandern könnten. Na ja. Da mein Opa schon nach Deutschland ausgewandert war, sind wir ihm eben gefolgt. Natürlich! Als Familienmitglieder. Jüdische Feiertage, jüdische Kultur - das wurde bei uns nicht praktiziert. Mein Opa wurde nicht gläubig erzogen. Und automatisch sind meine Eltern auch nicht religiös. In der Ukraine haben wir uns eher an den dortigen Feiertagen orientiert, wie Weihnachten, Silvester und Ostern. Als wir nach Deutschland kamen, haben wir auch mehr deutsche Feiertage befolgt, also Weihnachten am 24. Dezember und Ostern. Jüdische Feiertage gar nicht. Ja, ich bin Jüdin und das ist mir bewusst. Aber Feiertage, jüdische Kultur usw. fanden bei uns nicht statt."

Yaroslava

Wer jüdisch ist, muss nicht zwangsläufig religiös sein.

Für Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion spielte Religion kaum bis gar keine Rolle. Auch Mark Zaurov ist nicht religiös aufgewachsen. Religion war im Kommunismus nicht erlaubt. So hat auch er seine jüdischen Würzeln erst in Israel entdeckt. Ein für ihn besonders wertvolles Bilderbuch war für ihn damals eine Art Schlüssel in diese Welt: "Das war für mich so faszinierend, die Mimik, die Bewegungen, wie auf einer Theaterbühne. Es hat mir so viel gegeben, für mich, für meine Sprache. … Ich habe dadurch gelernt, was jüdische Kultur überhaupt bedeutet. Es war eine Art 'geballte Kulturladung' für mich und sehr bedeutend. Weil … wie sollte ich mir als Tauber dieses Wissen vermitteln, es gab ja keine Möglichkeiten…"

Und was bedeutet es nun für Mark Zaurov jüdisch zu sein?

"Ich bin so geboren, als Jude. So ist es. Es gibt nicht dieses eine 'Jüdisch'. Ich bin so aufgewachsen, wie ich es bin. Mit den Traditionen, der Küche, der Denkweise, dem jüdischen Humor, dem Austausch. Halt typisch jüdisches Leben, ich kenn es nicht anders. Das Bild vom Juden mit Kippah und Schläfenlocken, so kenne ich es nicht. Ich bin in Israel aufgewachsen, da ist das anders mit der jüdischen Identität. Da wächst man mit der jüdischen Kultur auf, es ist ganz normal. Da bin ich am (Shabbat-) Samstag auch schwimmen gegangen… man grillt, kocht… ich habe mir da nicht so einen Kopf drüber gemacht.Hier in Deutschland war ich erstmal verwirrt, weil alles ganz anders ist. Hier wird viel Schweinefleisch gegessen. In Israel gibt es das gar nicht. Und mit dem Glauben, da wird einem hier gleich diese Rolle, dieses Bild übergestülpt 'du bist jüdisch, also hast du so und so auszusehen'. Dann habe ich immer gesagt: 'Moment mal, das ist nicht in allen Familien so'. Da muss man differenzieren, es gibt über 1000 Glaubensrichtungen. Je nachdem wie man aufwächst. Was mich aber geprägt hat, ist die Kultur, die Geschichte und das Erbe. Der Stolz, Teil eines Volkes zu sein, das in der Geschichte immer wieder Landvertreibungen erlebt hat, wie die Besetzung durch die Römer, und trotzdem all die Jahrhunderte überstanden hat. Das ist ein Teil von mir."

Mark Zaurov

Um der Politik zu zeigen, dass auch taube Jüdinnen und Juden da sind und Teil der Erinnerungskultur der letzten 1700 Jahre sind, hat Mark Zaurov einen Verein gegründet: Die "Interessengemeinschaft Gehörloser jüdischer Abstammung in Deutschland" organisiert Veranstaltungen und möchte die Gehörlosengeschichte weiter mitgestalten.


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