Ralf Brauns Leben zwischen Abschied und Neuanfang
Er ist einer der ersten selbstständigen Gehörlosen in Deutschland, als er das Geschäft des Vaters übernimmt. Für den Vater war es rückblickend die beste Entscheidung seines Lebens. Doch auf den Sohn, der als Gehörloser in die Fußstapfen des Vaters treten soll, warten besondere Herausforderungen. Herausforderungen, die auch schon in der Kindheit gemeistert werden mussten. Der Weg zur Gebärdensprache und damit auch der Weg zur eigenen Identität war nicht einfach.
Erst als Ralf Brauns vier Jahre alt ist, wird seine Hörschädigung entdeckt. Da er aber noch ein Restgehör hat, besucht er einen Kindergarten mit hörenden Kindern. Auch nach der Einschulung ist er mit normal hörenden Kindern zusammen. Doch nach nur einem Jahr wird klar: Das funktioniert nicht, als einziger Gehörloser unter Hörenden und einer Lehrerin, die ebenfalls mit dieser Situation überfordert ist.
Der Junge wechelt zur Schwerhörigenschule in Bad Camberg. 70 Kilometer täglich zu pendeln ist nicht möglich, also wird er in eine Pflegefamilie vermittelt. Heimweh plagt ihn, auch weil er in seinem neuen Zuhause nicht kommunizieren kann. "Es gab kein schönes Miteinander, wie es in einer Familie üblich ist. Ich wurde in der Familie einfach nur geduldet. Ich war für die einfach nur ein Schüler und ein Pflegekind." Bergauf geht es für den Schüler Ralf, als er zur Gehörlosenschule nach Friedberg in Hessen wechselt.
"Als ich hierher nach Friedberg kam, spürte ich auf einmal Lebensfreude und hatte so ein positives Gefühl in mir. Ich sah hier viele junge Schüler, hier war auch Kommunikation und es fühlte sich viel freier an. Bei meinen Pflegeeltern in Bad Camberg war ich im Haus isoliert. Hier hatte ich das Internat und spürte die Offenheit und konnte kommunizieren; ein schönes Gefühl."
Ralf Brauns
Auch zwei der Erzieherinnen dort werden zu engen Bezugspersonen für Ralf Brauns, zu denen er sich noch heute verbunden fühlt.
"Ralf war damals etwas Besonderes. Er war ein junger Mann, der viele Fragen sich selbst gegenüber hatte: warum bin ich gehörlos, wer bin ich, warum bin ich gehörlos. Und trotzdem war er auf der anderen Seite sehr offen, ein fröhlicher Mensch, der Spaß hatte und freundlich war. Er hatte etwas Tiefergehendes. Er ist schon besonders."
Marion Dingeldey, ehemalige Erzieherin von Ralf Brauns
"Als ich mit der Gebärdensprache in Berührung kam, gefiel sie mir. Sie war für mich authentisch. Das Gebärden war schön anzusehen. Und mit der Gebärdensprache, glaube ich, habe ich meine Identität gefunden. Ich stand vor zwei Brücken, die Brücke zur Welt der Hörenden und die zu den Gehörlosen. Ich entschied mich dann für die Gehörlosen. Es gab da aber auch so etwas wie einen Faden, an dem ich mich entlanghangelte. Auf der einen Seite waren die Schwerhörigen und auf der anderen die Gehörlosen. Ich wusste nicht wohin. Da hatte ich eine Identitätskrise."
Ralf Brauns
Weg in die Gebärdensprachwelt
Ralf findet seinen Weg in die Welt der Gehörlosen. Er entdeckt seine Leidenschaft zum Theater, wird Teil der gebärdensprachlichen Theatergruppe "Trio-Art", die beim ersten DEGETH-Festival gewinnt. Auch er selbst wird ausgezeichnet: Mit dem Preis für den besten Schauspieler.
Andreas Müller-Bothmann, ein weiteres Gründungsmitglied von "Trio-Art" erinnert sich ebenfalls gern an die Anfänge:
"Als wir uns gründeten, hieß unser erstes Stück 'Solidarität'. Damals 1993 gab es unter den Gehörlosen keine Solidarität. Die Schulen waren noch lautsprachlich ausgerichtet, da gab es keinen Protest. Jeder hat die Verantwortung anderen zugeschoben und es auch Hörende machen lassen. Uns ging es darum, sich selbst untereinander zu solidarisieren; deshalb der Titel, damals 1993. Und heute ist es ganz anders."
Andreas Müller-Bothmann
Der Dritte im Bunde: Tom Bierschneider. Er hat vor allem auch ein Händchen für die Regie.
Die Gruppe hat eine großartige Zeit, ist erfolgreich, vergrößert sich. Bis zu jenem Winterurlaub. Als Tom ganz plötzlich verstirbt.
"Es kam dann erst einmal die Zeit des Trauerns. Tom war ein großer Verlust für Trio-Art. Aber nicht nur für uns war es ein großer Verlust, er hat ja das Kommunikationsforum ins Leben gerufen, was sich in ganz Deutschland verbreitete, dann war das Jugendcamp seine Idee. Das gründete er - was es bis heute noch gibt. Und dann ist da noch das DEGETH, was er mit großem Erfolg mit auf die Beine gestellt hat. Und plötzlich war er nicht mehr da. Das war heftig. Er ist bis heute unvergessen."
Andreas Müller-Bothmann
Anmerkung der Redaktion:
Andreas Müller-Bothmann und Tom Bierschneider haben die Kofos (Kommunikationsforen) in Nordrhein-Westfalen organisiert und verbreitet. Die Idee der Kofos stammt ursprünglich von Gertrud Mally, die 1984 das allererste Kofo in München ins Leben gerufen hatte. Die brilliante Idee Mallys fand schnell Nachahmer und verbreitete sich von München aus rasch in ganz Deutschland und ist bis heute eine wichtige Plattform zum Austausch innerhalb der Gebärdensprachgemeinschaft.
In den Fußstapfen des Vaters
Beruflich hat das Leben für Ralf Brauns ebenfalls Herausforderungen bereit: Nach seiner Schulzeit hadert Ralf zunächst, ob er wirklich Orthopädietechniker werden soll. Erst ein Praktikum bei einem Zahtechniker zeigt ihm: Ja, er wird dem Weg seines Vaters folgen. Der nämlich hat ein Sanitätshaus, in dem maßgefertigte Schuheinlagen, Prothesen und Orthesen angeboten werden. Ralf Brauns absolviert in einem anderen Unternehmen eine Ausbildung, kehrt nach zehn Jahren zurück in das Geschäft seines Vaters, macht seinen Meisterbrief. Kurz darauf wird sein Vater krank, so dass Ralf das Geschäft viel früher als gedacht übernehmen muss.
Die Verantwortung für die Mitarbeitenden, die Kommunikation mit Kunden und Krankenhäusern, vor allem der lange Kampf um Unterstützung vom Integrationsamt: Der Anfang ist alles andere als einfach. Letztlich schafft es Ralf Brauns aber sogar, das Geschäft zu vergrößern.
Auch im Privaten viele Herausforderungen
Seine Frau Betty arbeitet im Geschäft mit, sie haben eine gemeinsame Tochter, der Kontakt zu Ralfs Familie wie auch der Kontakt zu Bettys Familie ist herzlich. Doch auch im Privaten geht Ralfs Lebensweg nicht einfach nur gerade aus: Nach seinem Outing beginnt noch einmal ein neuer Lebensabschnitt.
Im letzten gemeinsamen Urlaub mit seinen Eltern und Geschwistern wissen bereits alle: Der Abschied von ihrem Vater steht bevor. Ein Abschied, der dann aber doch plötzlich kommt.
"Vor dem Tod hätte ich mir noch mehr Gespräche mit ihm gewünscht. Es gab tief in mir drin Dinge, die ich ihm gerne noch mitgeteilt hätte. Das fehlte. Aber ich habe auch gespürt, dass mein Vater – also Papa – und ich gedanklich eins waren. Ich spürte, dass seine Botschaft war: 'Ralf, geh deinen Weg.' Ich vermisse die tiefen Gespräche mit ihm. Und ja, der Tod ist ein schwerer Abschied. Loszulassen ist nicht so einfach."
Ralf Brauns