Taubblindheit Vom Kind zum Erwachsenen
Erwachsen werden und selbstständig sein: Auch für hörsehbehinderte junge Menschen ist das ein wichtiges Thema und eine große Herausforderung. Sehen statt Hören traf taubblinde Heranwachsende.
JULIAN
Julian ist eine Wasserratte. Im Schwimmbad fühlt sich der 10-jährige Junge wohl. Alleine kann er sich aber nicht im Wasser aufhalten, er kam taubblind zur Welt. Julian lebt in einer besonderen Welt, zu der nicht jeder Zugang findet.
Michaela Köster hat Zugang zu seiner Welt. Sie ist Julians Taubblinden-Assistentin, zu ihr hat Julian Vertrauen. Und natürlich zu seiner Familie – seiner Mutter Jessica und seinem jüngeren Bruder Marlon. Obwohl die Mutter von Anfang an Förderungen für ihren Sohn bekam, war es kein einfacher Weg für sie.
"Julian wurde geboren, leider ohne Bedienungsanleitung. Das ist leider so."
Jessica Hönig
Gefördert von Anfang an
Julian bekam bereits Frühförderung bevor er in den Kindergarten kam. Jetzt besucht er eine Schule für Körperbehinderte. Hier gibt es für die etwa 250 Schüler verschiedene Therapiemöglichkeiten wie Logopädie, Ergotherapie und Physiotherapie. Die Schulkinder haben verschiedenste Behinderungen, Julian ist das einzige taubblinde Kind. Darauf musste sich auch die Schule einstellen.
"Wir nutzen auch die Gebärdensprache für viele Schüler mit einer geistigen Beeinträchtigung - einfach, um noch mehr Kanäle anzubieten und Sprache zu verstehen, aufzunehmen und Dinge zu verstehen. Das war für Julian natürlich gut, da konnten wir anknüpfen. Für Julian gebärden wir nochmal mehr und auch anders, weil er die Gebärde ja nicht sieht. Das heißt, wir müssen ihn mehr anfassen beim Gebärden. Das ist tatsächlich neu für uns."
Frau Fucks, Klassenlehrerin von Julian
Große Fortschritte
Im Laufe der Zeit wurde Julian immer sicherer. Ein Effekt der kontinuierlichen Förderung.
"Am Anfang kannte er gar nichts in der Welt. Er war unsicher, hatte gar keine Sicherheit. Deshalb habe ich mit ihm frühzeitig im Kindergarten angefangen zu klettern. Das haben wir ganz langsam geübt. Dann ging es mit dem Schwimmen weiter usw.. Es ging darum, sein Selbstvertrauen aufzubauen. In letzter Zeit hat er große Fortschritte gemacht."
Michaela Köster, Julians Taubblinden-Assistentin
Kommunikationshilfen
Besonders wichtig ist Julians Pappkoffer. Darin sind seine sogenannten Beziehungsobjekte, damit kann er sich orientieren. Lässt man ihn diese fühlen, so weiß er beispielsweise welcher Wochentag ist oder was er alles Nächstes tun soll – zum Beispiel in Physiotherapie gehen. Mit diesen Objekten kann man mit Julian kommunizieren.
"Am Anfang braucht man viel Zeit. Man muss die Sachen immer wiederholen. Ohne das ständige Wiederholen ginge das gar nicht. Seit dem Kindergarten kennt er immer mehr Begriffe. Als er im Kindergarten war, mit ungefähr vier Jahren, kannte er vier oder fünf Wörter. Und jetzt sind es 40 – 50 Wörter bzw. Gebärden. Das ist beachtlich."
Michaela Köster, Julians Taubblinden-Assistentin
Glücklich und selbständig
Der Wunsch ist klar: Julian soll richtig gebärden und lesen können, so das Ziel der Assistentin. Julians Mutter freut sich sehr über seine bisherige Entwicklung – und ist sich sicher, dass noch viel mehr drin ist.
"Ich wünsche mir in erster Linie, dass er glücklich ist; natürlich, dass er für sich eigenständig und selbständig sein kann."
Jessica, Julians Mutter
ABDULLAH, ELHAM UND DILARA
Abdullah ist 24 Jahre alt und wurde in Pakistan geboren. Er lebt hier in Deutschland in einer Wohngemeinschaft mit Elham und Dilara. Die 3 haben ein Ziel: Erwachsen sein, - und das so selbstbestimmt und eigenverantwortlich wie möglich.
Fußballprofi werden, viele coole Klamotten kaufen und einmal in die Türkei reisen: Die Wünsche der drei WG-Mitbewohner ähneln denen vieler Heranwachsenden. Doch Abdullah, Elham und Dilara sind alle hör- und seheingeschränkt - auf unterschiedliche Weise. Deshalb leben sie in der Übergangsgruppe des Förderzentrums Sehen, das zur Stiftung St. Franziskus Heiligenbronn gehört. Und hier beginnen sie Schritt für Schritt ihr Leben als Erwachsene.
"Das Besondere an unserem Konzept ist, dass nicht – wie bei 95 % der Menschen mit Behinderung – ein scharfer Cut nach der Schule entsteht, sondern dass die Übergänge fließend gestaltet werden im Bereich Wohnen und Arbeiten."
Tobias Fichter, Heilerziehungspfleger
Den Beruf finden
Im Berufsbildungsbereich der Werkstätten in Heiligenbronn kann jeder einzelne bei verschiedenen Tätigkeiten seine Stärken und Schwächen testen. 27 Monate dauert das.
"In der Zeit holen wir uns Arbeiten aus der Werkstatt für behinderte Menschen und wir wollen den Menschen mit Sinnesbehinderungen so viel Arbeit wie möglich beibringen. Es geht darum […], ob sie für den Ersten Arbeitsmarkt oder die Werkstatt für Menschen mit Behinderung selbstständig arbeiten können."
Julian Link, Leiter Berufsbildungsbereich
Abdullah freut sich darüber, dass er selbst entscheiden kann, welche Arbeit er später einmal machen wird. Einen Abschluss in einem klassischen Ausbildungsberuf wird er damit aber nicht haben.
Geschult fürs Leben
Schon in der Schulzeit machen die Bewohner des Förderzentrums Praktika und lernen für ihr selbständiges Leben. Auch in der WG sind sie für vieles selbst verantwortlich: So wird gemeinsam gekocht, Einkäufe selbst getätigt und der Haushalt versorgt. Die Pädagogen begleiten sie außerdem durch den Alltag, helfen ihnen beispielsweise Arztbesuche immer selbständiger zu erledigen.
"'Hilf mir es selbst zu tun' - auf diesem Weg begleiten wir die jungen Erwachsenen […] Ziel ist von uns, dass sie einfach auf diesem Weg selbständig sind und das Rüstzeug an die Hand bekommen, die Sachen für sich selbst zu organisieren und sich selber zu strukturieren."
Martina Hoffmann, Erzieherin
Mit Erfolg: Die Drei werden immer selbstbestimmter. Und sie fahren auch längst nicht mehr jedes Wochenende heim zu ihren Familien – sondern gestalten sich ihre Freizeit allein und so wie sie es wollen.