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Gekommen, um zu bleiben? Taube Ukraine-Geflüchtete in Deutschland

Seit dem 24. Februar 2022 herrscht Krieg mitten in Europa. Der militärische Angriff Russlands auf die Ukraine hat Erwachsene und Kinder in die Flucht getrieben: Mehr als 7,9 Millionen Menschen haben nach Angaben des UNHCR seit Februar die Ukraine verlassen - mehr als eine Millionen Menschen haben seit Kriegsbeginn in Deutschland Schutz gesucht. Die Zahl tauber Geflüchteter ist derweil nicht bekannt. Wie ist die aktuelle Lebenssituation für taube Geflüchtete aus der Ukraine? Sind sie gekommen, um zu bleiben?

Stand: 26.01.2023

Mykola kam im Frühjahr 2022 mit seiner Familie nach Deutschland. Ihr Gepäck: Zwei Taschen mit dem Allernötigsten– für ihn, seine Frau und die drei Mädchen.  Zwei Tage und zwei Nächte waren die Fünf unterwegs, zuerst mit dem Bus, dann mit dem Auto. So kamen sie nach München – und endlich etwas zur Ruhe.

Mykola

Mykola, der in der Ukraine im Einzelhandel und als Fensterbauer tätig war, will auch in Deutschland arbeiten. Außerdem will er für sich und seine Familie eine Wohnung bekommen – denn noch leben sie in einer Asylbewerberunterkunft. Eine Ausnahme, denn offiziell gelten Geflüchtete aus der Ukraine nicht als Asylbewerber. Aber hier sind trotzdem insgesamt 33 taube Geflüchtete sind untergebracht – zusammen an einem Ort. Auch die Gehörlosenschule und der Kindergarten sind in unmittelbarer Nähe. Mykola sieht für seine Kinder derzeit größere Chancen in Deutschland als in ihrer Heimat. Aber noch haben sich er und seine Familie nicht entschieden, ob sie nach Kriegsende bleiben wollen oder nicht.

Der GMU ist die Anlaufstelle

Im Großraum München ist der GMU, der Gehörlosenverband München und Umland, die Anlaufstelle für taube Geflüchtete. Unterbringung, Anträge, Behördengänge, Dolmetscher, Ausweispapiere und bei vielem mehr unterstützt der Verein die gehörlosen Geflüchteten.

Eine Geflüchtete hilft mit

Seit Frühjahr 2022 arbeitet hier auch Natalia – sie ist selbst aus Kiew geflüchtet. "Im März, da ging es uns psychisch nicht gut. Ich habe eine Tochter, die hörend ist. Diese ständigen Bombenangriffe, die Explosionen, der dauerhafte Beschuss. Ihr ging es nicht gut. Ich fragte sie, ob wir nicht zusammen in ein EU-Land flüchten sollten. Aber wie, wussten wir nicht", erinnert sich Natalia. Zunächst wollten die beiden nach Polen, doch egal ob Bus, Zug oder Auto: Alles war voll. Schließlich verbringen Mutter und Tochter ganze drei Tage im Zug, sie kamen über Dresden nach Augsburg. In der Ukraine ist Natalie im sozialen Bereich tätig gewesen und weil sie auch hier gerne wieder etwas zu tun haben wollte, meldete sie sich beim GMU. Bezahlung bekommt sie  zunächst keine. "Das war mir egal. Ich war bereit, ohne Bezahlung zu arbeiten, Hauptsache ich konnte helfen."

Es gibt viel zu tun für Natalia: Sie kümmert sich insgesamt um etwa 140 Personen, die regelmäßig ihren Rat einholen – am Tag hat sie meist so um die fünf Termine. Die Anfragen sind dabei sehr unterschiedlich. "Sie haben Schwierigkeiten im Bereich Wohnen oder es geht um Schreiben, wo auch telefonisch etwas zu klären ist. Auch kommen viele taube Ukrainer mit schulischen Belangen ihrer Kinder hierher, wenn es Probleme in der Schule gibt und es ein Gespräch mit der Lehrkraft geben soll. Da sind viele unsicher."

Gehörlosenverband wurde überrollt

Cornelia von Pappenheim, die Geschäftsführerin des GMU, ist sehr glücklich über die Mithilfe von Natalia. Sie erinnert sich zurück, an den Beginn des Ukraine-Kriegs: "Wir wurden von der Menge der Hilfesuchenden quasi überrollt. Und mit ganz neuen Herausforderungen konfrontiert." Alleine die völlig andere Sprache war eine große Barriere. Mit Natalia konnte diese überwunden werden. "Sie ist sehr engagiert. Zum Beispiel hat sie für München kleine Videoclips mit wichtigen Informationen über Telegram verbreitet", schwärmt Cornelia von Pappenheim. Dass Natalia das alles ehrenamtlich leisten sollte, wollte Cornelia nicht hinnehmen – und so beantragte der Verein ein Projekt bei der "Aktion Mensch", das schließlich für ein Jahr bewilligt wurde und Natalia nun finanziert. Und noch ein Ukrainer bekam einen bezahlten Job bei der GMU: Oleg, ein handwerklich sehr begabter Mann, ist nun als Hausmeister für die Reparaturen jeglicher Art im Verband zuständig – mit Bewilligung des Jobcenters.

Deaf Refugees informiert gezielt

Insgesamt ist dieHilfsbereitschaft für taube Geflüchtete groß. Es gibt ein bundesweites Netzwerk mit dem Titel "Deaf Refugees". Das hatte sich bereits zur Flüchtlingswelle 2015/2016 gegründet und  informiert auf seiner Homepage nun auch für Geflüchtete aus der Ukraine. Auf dem gleichnamigen Instagram-Kanal werden Videos mit aktuellen Informationen in ukrainischer Gebärdensprache gepostet und geteilt. Die Infos hier sind vielfältig, taube Dolmetscher übersetzen die Antworten auf die drängendsten Fragen der Geflüchteten in Form von Videos und es gibt sogar eine Direkt-Beratung per Videocall. Der Bedarf ist in den letzten Monaten etwas gesunken – zu Beginn war das Team sozusagen im Dauereinsatz. "Gut, dass es ruhiger wird. Das zeigt ja auch, dass unsere Informationen gut ankommen und sich die Lage etwas entspannt hat", freut sich Sarah, die von Anfang an dabei ist.

Strom der Geflüchteten reißt nicht ab

Doch der Strom der Geflüchteten aus der Ukraine reißt nicht ab: Gezielte Angriffe auf die zivile Infrastruktur, wie die Energieversorgung in der Ukraine und der anhaltend kalte Winter, der die Menschen frieren lässt, haben dazu geführt, dass in den letzten Monaten noch mehr Menschen das Land verlassen haben. Die Unterbringung geflüchteter Ukrainerinnen und Ukrainer in Deutschland wird zu einer immer größer werdenden Herausforderung. Besonders in Großstädten ist der Wohnraum knapp.

Kommen die Geflüchteten nun, um in Deutschland zu bleiben? Nach einer aktuellen deutschlandweiten Umfrage unter ukrainischen Geflüchteten gaben 37 Prozent an, in Deutschland bleiben zu wollen. 34 Prozent wollen bis Kriegsende bleiben. 27 Prozent sind noch unentschieden. Und 2 Prozent planen, in naher Zukunft zurückzugehen. Nur wie lange der Krieg noch dauern wird – wer weiß das schon?

Quelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Kurzstudie: Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland, Dezember 2022


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