Novemberpogrome 1938 Generalprobe für die Vernichtung
Während der Pogrome in der Nacht von 9. auf 10. November 1938 brannten Hunderte Synagogen, wurden Tausende Geschäfte zerstört sowie zahlreiche Juden ins KZ verschleppt und ermordet. Ihr Geld verleibte sich der NS-Staat ein, vor allem auch für seine Kriegskasse. Für viele der überlebenden Juden war die von Joseph Goebbels inszenierte "Reichskristallnacht" der Prolog zum Holocaust.
7. November 1938: Der 17-jährige, in Paris lebende deutsch-polnische Jude Herschel Grynszpan kauft sich einen Revolver, betritt damit anschließend die deutsche Botschaft und feuert fünf Mal auf den Legationsrat Ernst vom Rath. Schwer verletzt sinkt der Diplomat zu Boden. Das Motiv der Tat ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Möglicherweise hat sie damit zu tun, dass Grynszpans Familie in Hannover von den Nationalsozialisten im Oktober nach Polen abgeschoben wurde.
Äußerer Anlass der Pogromnacht am 9. November 1938: das Attentat auf den Legationsrat Ernst vom Rath
9. November 1938: Ernst vom Rath erliegt am Nachmittag seinen Verletzungen, die Nazis haben einen Märtyrer. Adolf Hitler hält im Münchner Alten Rathaus am Abend sein alljährliches Feierritual mit den "alten Kämpfern" vom gescheiterten Putsch 1923 ab, als er vom Tod des Diplomaten erfährt. Der NS-Führung kommen Grynszpans Tat und vom Raths Tod sehr gelegen. Sie nehmen beides zum Anlass, die Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben endgültig auszuschalten.
"Spontaner Volkszorn" - von Goebbels inszeniert
Noch am selben Abend macht NS-Chefpropagandist Joseph Goebbels nach einem Gespräch mit Hitler im Münchner Rathaus in einer Hetzrede die Juden kollektiv für den Tod vom Raths verantwortlich und initiiert die Aktion, die dann - verharmlosend - als "Reichskristallnacht" in die Geschichte eingeht. Laut Goebbels soll es so aussehen, als ob die Übergriffe gegen Juden nicht von der NSDAP organisiert, sondern Ausdruck des "spontanen Volkszorns" seien, den man allerdings gewähren lassen solle. Die anwesenden Gauleiter verstehen dies als Signal, flächendeckend judenfeindliche Aktionen zu veranlassen.
"Überall krachte und splitterte Glas"
Mit Eiltelegrammen wird nun dem "spontanen Volkszorn" nachgeholfen, der sich in der gewünschten Form zunächst nur an wenigen Orten eingestellt hat. Losgeschickt werden "SS-Leute, in schwarzen Reithosen und hohen Stiefeln, aber in Ziviljacken und mit Hüten. Sie gingen gelassen und systematisch zu Werke", erinnert sich der Schriftsteller Erich Kästner. Sie "schlugen mit Eisenstangen Schaufenster ein. Überall krachte und splitterte Glas".
Brennende Synagogen
Der Mob zertrümmert Tausende jüdischer Geschäfte, verwüstet Wohnungen, schändet jüdische Friedhöfe. Etwa 1.500 Synagogen und Betstuben werden nach Erkenntnissen des in Jerusalem ansässigen Instituts Synagogue Memorial zerstört bzw. gehen in Flammen auf. Die Feuerwehren sind angewiesen, die Synagogenbrände nicht zu löschen. Manche jüdische Gotteshäuser bleiben nur deshalb verschont, weil durch die Flammen auch umliegende Gebäude gefährdet worden wären. So kann deshalb in München die Synagoge in der Reichenbachstraße, bis 2006 Hauptsynagoge in der Stadt, stehen bleiben.
200 Juden sterben allein in Dachau
Bis heute gibt es weder eine exakte Bilanz zu den Sachschäden noch zu den Opferzahlen. Schätzungen zufolge kommen allein in der Pogromnacht 400 Juden um. Insgesamt etwa 30.000 - vorzugsweise wohlhabende - Juden werden verhaftet und in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen deportiert. Allein in Dachau sterben binnen kurzer Zeit fast 200 Juden. Todesfälle durch Haftfolgen oder durch Selbstmord miteingerechnet, kommen infolge der Ausschreitungen nach Schätzungen mehr als 1.300 Menschen um.
Juden müssen für Schäden auch noch zahlen ...
Hermann Göring: "Mir wäre es lieber gewesen, ihr hättet 200 Juden erschlagen und hättet nicht solche Werte vernichtet."
Innerhalb der NS-Führung findet Goebbels' Initiative aber nicht nur ungeteilte Zustimmung - nicht wegen der Gewalt gegen Juden, sondern wegen des finanziellen Schadens für Versicherungsunternehmen und für die Volkswirtschaft. So stellt sich heraus, dass viele der zerstörten Geschäfte "Ariern" gehören und von Juden lediglich gemietet sind. Hermann Göring kommentiert das Ergebnis der Pogromnacht: "Mir wäre es lieber gewesen, ihr hättet 200 Juden erschlagen und hättet nicht solche Werte vernichtet."
... und Nazis können Kriegskasse füllen
Göring wird damit beauftragt, die nun folgenden "Arisierungsmaßnahmen" zu koordinieren. Das Ergebnis: Die Juden haben den doppelten Schaden. Göring erlegt ihnen nämlich unter anderem eine "Sühneleistung" in Höhe von einer Milliarde Reichsmark auf. Außerdem wird die "Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben" beschlossen - mit der Folge, dass jüdische Unternehmen sukzessive "arisiert", d. h. enteignet werden. Die Gelder verleibt sich der Staat ein, dessen Haushaltsdefizit Anfang 1938 bei zwei Milliarden Reichsmark lag. Dem "Dritten Reich" drohte dadurch Zahlungsunfähigkeit - und Hitlers Kriegspläne wären damit gefährdet gewesen.
Vorstufe des Holocaust
Abseits von Finanzfragen sehen Geschichtsforscher in den Novemberpogromen den Übergang der NS-Machthaber zur offenen Gewalt. Die in den Jahren zuvor durch endlose Gesetze bereits entrechtete jüdische Minderheit sollte nach den Worten des Historikers Wolfgang Benz mit den inszenierten Aktionen vom 9. November endgültig gedemütigt werden. Die Vernichtungssystematik des Holocaust war im November 1938 zwar noch nicht geplant, die Pogrome erscheinen aber wie eine Vorstufe dazu. Sie markierten das Ende des öffentlichen jüdischen Lebens in Deutschland.