Highway '68 revisited 1968 - das Ausnahmejahr
Vietnamkrieg und Prager Frühling, Dutschke und Springer, Notstandsgesetze und freie Liebe - und am Schluss noch eine Ohrfeige für den Kanzler: Im Epochenjahr 1968 passierte viel und scheinbar alles auf einmal. Ein Rückblick.
7. November 1968, CDU-Parteitag in West-Berlin: Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger sitzt am Podium, bereitet sich auf eine Rede vor. Da taucht hinter ihm eine junge Frau auf. Sie ruft: Nazi, Nazi, Nazi – und schlägt dem Bundeskanzler mit der flachen Hand ins Gesicht. "Das war eine so symbolische Aktion, ich würde sagen, das war die Ohrfeige der Kinder der Nazis für den Nazivater", kommentiert Beate Klarsfeld ihre schlagzeilenträchtige Attacke gegen das ehemalige NSDAP-Mitglied Kiesinger später. Sie hinterlässt mehr als nur ein rotes Auge.
Ein Aufstand der Jungen
Im Herbst des Jahres 1968 wollten sich immer mehr "Kinder der Nazis" nicht mehr in die muffige Nachkriegsordnung einfügen, die der greise Kanzler Konrad Adenauer geschaffen hatte, wollten nicht mehr folgsam und stebsam sein, wie sie die vom Wirtschaftswunder satt gewordenen Eltern gerne gehabt hätten. Che Guevara und John Lennon waren ihnen näher als Heintje, der brave Schlagerimport aus Holland, der 1968 mit einem Lied für seine "Mama" die Hitparade in Deutschland anführte. Sie begannen, Fragen zu stellen über die Rolle, die Vater und Mutter im "Dritten Reich“ gespielt hatten. Doch über die Vergangenheit wurde geschwiegen - am Familientisch wie in der Öffentlichkeit.
Dabei saßen 20 Jahre nach Kriegsende wieder viele der alten NS-Funktionseliten auf Richtersesseln, in Behörden und Ministerien. Die Ohrfeige der 29-jährigen Klarsfeld war auch Symbol für das tiefe Misstrauen einer jungen Generation gegenüber den Herrschenden.
"Es gab ja diesen Spruch aus Kalifornien 'Trau keinem über dreißig'. Insofern müsste ich auch mir selber gegenüber seit knapp 40 Jahren sozusagen völlig misstrauisch sein."
Wolfgang Kraushaar, Historiker
Wolfgang Kraushaar (Jahrgang 1948) ist ein Kind von 1968. Als Historiker bei der Hamburger Stiftung für Politik und Zeitgeschehen erforscht er seit über 30 Jahren die 68er-Bewegung und damit die eigene Vergangenheit.
Zündfunke aus Vietnam
Im Januar 1968 eskalierte der Krieg in Vietnam. Nachdem Kämpfer des Vietcong eine Offensive gegen US-Truppen begonnen hatten, verübten amerikanische Soldaten im Dorf My Lai ein Massaker an 501 Zivilisten. Am 1. Februar erschoss der Polizeichef von Saigon auf offener Straße einen gefangenen Vietcong - vor laufenden Kameras. Die Aufnahmen gingen um die Welt. Vietnam - das war auch der erste Krieg, der im Fernsehen übertragen wurde.
"In der Tagesschau wurde jeden Abend darüber berichtet. Und deshalb war der Vietnamkrieg in den Köpfen und in den Gesprächen und in den Diskussionen permanent präsent."
Wolfgang Kraushaar
Frontstadt Berlin: Dutschke contra Springer
An der FU Berlin sammelte man bereits eifrig Geld für den Vietkong. Ein unerhörtes Verhalten: Ausgerechnet in der von den Amerikanern gegründeten Freien Universität, ausgerechnet in West-Berlin, der Frontstadt des Kalten Krieges, die nur durch die Präsenz der USA am Leben erhalten werden konnte - ausgerechnet an diesem sensiblen Ort rief der Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) mit einem Internationalen Vietnamkongress im Februar 1968 zum Kampf gegen die "Hegemonialmacht Amerika" auf.
Eine Vorahnung kommender Ereignisse hatte es schon am 2. Juni 1967 gegeben, als am Rande der Proteste gegen den Besuch von Schah Reza Pahlewi der Student Benno Ohnesorg durch die Kugel eines Polizisten starb. Sein Tod trieb viele auf die Straßen, die sich bislang zurückgehalten hatten. Als charismatischer Anführer schälte sich dabei immer mehr Rudi Dutschke heraus. Mit ihm bekam die bisher amorphe Bewegung Stimme und Gesicht - und die Springer-Presse ein fast täglich neu zu verteufelndes Feindbild. Die Studenten revanchierten sich für die Hetze, indem sie Zeitungsstapel und Lieferwagen in Brand stecken. Die "Insel" West-Berlin wurde Hochburg des Protests - und Petrischale sozialer Experimente.
Neue Töne - im Hörsaal, auf der Straße und im Schlafzimmer
Das theoretische Fundament der neuen Bewusstwerdung war eine abenteuerliche Mischung aus Marxismus, Sozialpsychologie und Psychoanalyse. Die Helden der Bewegung: Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse, die Leitfiguren der sogenannten Frankfurter Schule - aber auch der Freud-Schüler Wilhelm Reich, der zum Herold der sexuellen Befreiung wurde. Die Aufklärungsfilme von Oswalt Kolle in Kino und Fernsehen taten das ihre, um zusammen mit dem "Muff unter den Talaren" auch die Bettdecken auszulüften. Weil das Private nach Definition der studentischen Theoretiker immer auch politisch war…
"... begannen fast alle, die damals zu den aktiven Protestierenden zählten, mit ihren Beziehungsformen zu experimentieren. Und deshalb hat es einen enormen Schub ausgelöst, mit allen möglichen Verwerfungen."
Wolfgang Kraushaar
Von wirklich befreier Sexualität konnte - vor allem aus weiblicher Sicht - keine Rede sein. Der gern zitierte Spruch "wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“ ist entlarvend: Freie Liebe wurde auch 1968 hauptsächlich von Männern definiert und in Anspruch genommen.
"Die Frauen wollten sich nicht einfach instrumentieren lassen und nur noch die Bettgenossinnen sein, oder für das Abtippen von Flugblättern zuständig sein, sondern sie wollten mitentscheiden."
Wolfgang Kraushaar
Revolution im Fernsehen: die Rolle der Medien
Das Private wurde politisch - und das Politische eroberte die Wohnzimmer. "Achtundsechzig" war die erste Revolution, die im Fernsehen stattfand. Noch 1956 hatten weniger als fünf Prozent der Deutschen Zugang zu einem Fernseher. Fünfzehn Jahre später waren es neun von zehn.
Über die Mattscheibe flimmerten, eingerahmt von viel gediegener Unterhaltung: Vietnamkriegsgreuel, Straßenproteste in vielen deutschen Großstädten, politische Debatten - einiges davon seit 1967 in Farbe. Auch die Verbreitung der Zeitungen erreichte Rekordmarken.
Die Auflage der Bild-Zeitung, die sich beim Thema Studenten weniger als Berichterstatter denn als Akteur gerierte, war von gut einer halben Million beim Start 1953 auf über vier Millionen gestiegen (um sich danach durch überdrehte Schlagzeilen wie "Stoppt den Terror der Jung-Roten" oder "Kein Geld für langhaarige Affen" vorübergehend selbst zu dezimieren).
Die Bewegung beantwortete die Hetze auf ihre Weise. Rudi Dutschke forderte dazu auf, "die Rotationsmaschinerie von Springer in die Luft zu jagen". Die Berliner Kommune 1 um Rainer Langhans, Dieter Kunzelmann und Fritz Teufel erfand das äußerst medientaugliche Konzept der "Spaßguerilla" und warf Torten auf Politiker.
"Die haben, als Leute vom 'Spiegel' und 'Stern' mit ihnen Interviews durchführen wollten, gesagt: Ihr bekommt euer Interview, wenn ihr uns einen Fernseher da hinstellt. Und das ist tatsächlich geschehen. Das sollte den Zweck haben, dass man sich in der Kommune 1 anschauen konnte, was man tagsüber produziert hatte - wie das am Abend dann in der Fernsehsendung Berlins, der Abendschau, entsprechend präsentiert worden ist. Das heißt: da gab es ein Feedback und eine Interaktion zwischen beiden."
Wolfgang Kraushaar
Vom Traum zum Alptraum: 68 und die Gewalt
Worüber das Fernsehen auch berichtete: In den USA starben kurz hintereinander zwei Hoffnungsträger der Friedensbewegung, der schwarzen Bürgerrechtler und der Einwanderer: Martin Luther King, dessen "I have a dream"-Rede auf dem Marsch nach Washington 1963 auch in Deutschland Wiederhall gefunden hatte, wurde am 4. April niedergeschossen. Am 5. Juni trafen Robert Kennedy, den Bruder von John F. Kennedy, während des Vorwahlkampfes zur US-Präsidentschaft sieben Kugeln. In Deutschland wurde genau eine Woche nach Reverend King Rudi Dutschke Opfer der Gewalt. Mit drei Schüssen streckte Josef Bachmann, Hilfsarbeiter mit Verbindung zur rechtsextremen Szene, ihn am 11. April 1968 auf offener Straße nieder; elf Jahre später erlag Dutschke den Spätfolgen. Das Attentat auf den Studentenführer war – ein knappes Jahr nach dem Tod von Benno Ohnesorg - das zweite Ereignis, das die Radikalisierung der 68er-Bewegung befeuert.
Blütenträume im Mai 1968
Einen Frühling lang scheint die Welt sich 1968 schneller zu drehen. In Paris treibt ein Bündnis der Jungen mit der Arbeiterschaft Präsident de Gaulle außer Landes. "Tout est foutu" - alles ist dahin, soll er im Exil in Baden Baden gesagt haben. Auf der anderen Seite des eisernen Vorhangs ruft der tschechoslowakische Regierungschef Alexander Dubcek "einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz" aus.
"Ich glaube, das ist die große Klammer, dass in West wie in Osteuropa die Systemfrage gestellt worden war. Und da kann man erkennen, wie tief eigentlich dieser Impuls, der 1968 freigesetzt worden ist, auch politisch gegangen ist. Da ging es wirklich um etwas."
Wolfgang Kraushaar
Dann kehrt General de Gaulle nach Paris zurück, in Prag rollen sowjetische Panzer. Und auch in Deutschland hat der Frühling schnell welke Blätter.
"Talking 'bout a revolution" - das Ende vom Lied
Die Idee der Bürgerkinder, zusammen mit revolutionären Kräfte in Europa und den USA, in Kuba, Mexiko und den afrikanischen Staaten ein transkontinentales Bündnis zu schaffen, erweist sich zusehends als Schimäre. Auch das große Nahziel – der Schulterschluss mit der Arbeiterschaft im eigenen Land - scheitert.
Die Politik indessen hat schon reagiert. Mit den Notstandsgesetzen will die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD im Krisenfall bestimmte Grundrechte aussetzen und die Bundeswehr im Inneren einsetzen. In vielen deutschen Städten protestiert die "außerparlamentarische Opposition" - kurz APO.
Höhepunkt ist der Sternmarsch auf die damalige Bundeshauptstadt Bonn am 11. Mai 1968. Mehr als 10.000 Menschen sind dabei, unter ihnen prominente Intellektuelle wie Heinrich Böll, der erkärt, das Gesetz erschiene "den meisten meisten Bürgern als eine Art Verkehrsregelung, während es in Wahrheit fast alle Vollmachten für eine totale Mobilmachung enthält."
Unter den Berliner Studenten macht sich Ermüdung breit. Der SDS war ein Jahr später schon in eine Vielzahl von Kleinstparteien und Politsekten zerfallen: Maoisten, Marxisten-Leninisten, Volksfront gegen Reaktion. Einige wenige wählten den Weg in den Untergrund, in die Gewalt und schließlich in den Terrorismus.
Was vom Frühling übrig blieb
Die Mehrzahl der organisierten Studenten aber machte sich auf zum Marsch durch die Institutionen, sie traten den JuSos und der SPD bei. So flossen die modernen Denkansätze der 68er-Bewegung auch in die etablierte Politik der Bundesrepublik ein. Und 1969 schließlich musste Kurt Georg Kiesinger, der ein Jahr zuvor von Beate Klarsfeld als Nazi geohrfeigt worden war, Willy Brandt Platz machen - einem Sozialdemokraten, der vor den Nazis ins Ausland geflohen war. Ein neuer Geist zog ins Kanzleramt ein.
"Wir wollen mehr Demokratie wagen"
Willy Brandt