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Das Ende des Prager Frühlings Das Thema

Stand: 10.08.2010 | Archiv

Mit Steinwürfen wurden die sowjetischen Panzer am 21.08.1968 in Prag empfangen. Mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen in die Tschechoslowakei endete der Prager Frühling | Bild: picture-alliance/dpa

"Die Leute fühlten sich wie in einem neuen Paradies. Alles ist jetzt möglich - es macht Spaß. Wir brauchen gar keine Westsender mehr zu hören - unsere Sender sind viel interessanter jetzt. Was hier alles passiert an Leben. Wir sind wieder in der Mitte Europas."

Egon Bahr

Egon Bahr, deutscher Botschafter im Auswärtigen Amt, war nicht der Einzige, der 1968 begeistert auf die Ereignisse des "Prager Frühlings" reagierte. Das ganze Land atmete auf: Keine Pressezensur mehr, verbotene politische Parteien und Vereinigungen begannen mit neuen Aktivitäten, die Opfer der stalinistischen "Säuberungen" wurden rehabilitiert, es gab freie Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Betrieben. Im Land wurde wieder frei gesprochen: über die Unfähigkeit der kommunistischen Funktionäre, den Mangel an Freiheit, die Spannungen zwischen Tschechen und Slowaken, die Schrecken der Stalinzeit.

Entwicklung des Reformwerks

Die Veränderungen waren nicht plötzlich gekommen, nicht durch eine Revolution von unten, nicht durch ein Aufbäumen des Volkes. Die reformwilligen Kräfte kamen aus der Partei. Sie erkannten, dass irgendetwas gegen den wirtschaftlichen Niedergang des Landes unternommen werden musste. In der Mitte der 60er Jahre hatte die KPČ-Führung verschiedene Forschungsteams der Akademie der Wissenschaften damit beauftragt, die Krisenprozesse zu analysieren und Lösungsvorschläge zu entwickeln. Prominente Theoretiker waren der Wirtschaftswissenschaftler Ota Šik, der eine radikale Wirtschaftsreform ausarbeitete, der Philosoph Radovan Richta, der sich mit Problemen der wissenschaftlich-technischen Revolution befasste, sowie der Politikwissenschaftler Zdenek Mlynar, der Fragen der Reform des politischen Systems behandelte. Prägend für alle war der Leitgedanke, dass das Individuum im Mittelpunkt des ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Lebens stehen müsse. Man setzte sich den Aufbau einer sozialistischen Marktwirtschaft zum Ziel, in der unterschiedliche Eigentumsformen, Marktorientiertheit und demokratische Mitbestimmung der Werktätigen die starre Planwirtschaft ablösen sollten, man wollte den politischen Überbau durchgehend demokratisieren, strebte den Aufbau eines dem Sozialismus verpflichteten Mehrparteiensystems an. Am 5. April 1968 verabschiedete das ZK der KPČ ein Aktionsprogramm, das diese Reformen umsetzen und das Machtmonopol der Kommunistischen Partei beschneiden sollte.

Alexander Dubček

Es gelang den reformorientierten Kräften, ihren Einfluss in der Partei schrittweise auszubauen. Die alten Machthaber wurden abgelöst, eine neue Regierung gebildet – mit Alexander Dubček an der Spitze. Seine Wahl zum Parteivorsitzenden im Januar 1968 markiert den Beginn des Prager Frühlings.

"Wir haben Ihnen versprochen, dass wir an der Entwicklung, die im Januar begonnen hat, festhalten. Damals setzten wir uns zur Aufgabe, in unserer Heimat eine sozialistische Gesellschaft mit menschlichem Antlitz aufzubauen, die zutiefst demokratisch, sozial gerecht und modern orientiert sein soll. Eine Gesellschaft, die sozialistische Werte mit nationalen vereint, in der unsere Bürger nach ihrem Wissen und Gewissen souverän über ihr eigenes Schicksal entscheiden können."

Alexander Dubček

So formulierte Alexander Dubček seine Ziele in einer Rundfunkansprache. Die Bevölkerung war begeistert und Dubček so populär wie kein anderer Vertreter des Regimes vor ihm. Dabei war Dubček Kommunist und wollte nie etwas anderes sein. Der 1921 geborene Slowake stammte aus einer kommunistischen Familie. Im Zweiten Weltkrieg kämpfte er als Widerstandskämpfer gegen die Faschisten. Mit 18 trat er in die Kommunistische Partei ein und arbeitete sich zäh und unauffällig ins Zentralkomitee vor. Er wirkte wie ein ganz normaler Apparatschik, seine Karriere verlief reibungslos, sein Reformwille fiel niemandem auf – wohl weil er bis zum Jahr 1968 nicht besonders ausgeprägt war. Dann aber wurde schnell klar, dass er und die anderen Prager Reformer mehr wollten als eine Kurskorrektur, sie wollten eine offenere Gesellschaft. Das ging weit über das hinaus, was der Warschauer Pakt zu tolerieren bereit war. Die Staaten des real existierenden Sozialismus beherrschten ein Drittel der Erde, aber sie waren unflexibel, ideologisch erstarrt, unfähig, Kritik zu integrieren, unfähig, das utopische Erbe des Sozialismus zu bewahren.

Reform und Rückschritt in Osteuropa

Dabei hatte es in den 50er und 60er Jahren auch in anderen Ostblockstaaten Reformbestrebungen gegeben. In der DDR öffnete man sich für Veränderungen im wirtschaftlichen Bereich, wollte aber auf keinen Fall riskieren, dass diese in eine Veränderung der politischen Machtstrukturen mündeten. Das Beispiel CSSR zeigte überdeutlich, dass diese "Gefahr" nur schwer zu umgehen war; in der DDR fürchtete man ein Überspringen des Funkens. Auch die Sowjetunion zeigte unter Chruschtschow Bereitschaft zum Wandel, aber Chruschtschow wurde 1964 entmachtet und durch Leonid Breschnew ersetzt, der als Generalsekretär der KPdSU den Reformkurs abbrach. Für ihn mündete das, was in der CSSR geschah, in Konterrevolution und Restauration des Kapitalismus, er sah darin eine Gefahr für die Sicherheit der sozialistischen Staatengemeinschaft.

Die Vorbereitung der Militärintervention

Am 14. und 15. Juli 1968 trafen sich die fünf späteren Interventionsmächte Sowjetunion, DDR, Volksrepublik Polen, Ungarische Volksrepublik und Volksrepublik Bulgarien in Warschau und schrieben den fern gebliebenen tschechoslowakischen "teuren Genossen" einen Drohbrief.

"Die Völker unserer Länder würden uns ein gleichgültiges und sorgloses Verhalten zu einer solchen Gefahr niemals verzeihen …. Deshalb meinen wir, dass die entschiedene Zurückweisung der Angriffe der antikommunistischen Kräfte und die entschlossene Verteidigung der sozialistischen Ordnung in der CSSR nicht nur Ihre, sondern auch unsere Aufgabe ist."

Panzer rollen über die Grenze

Wenige Wochen später, am 21. August 1968, rollten Panzer über die Grenze und walzten den Prager Frühling nieder. Für die älteren Tschechen war es nach 1939 das zweite Mal, dass sie machtlos mit ansehen mussten, wie fremde Truppen das Land besetzten. Das Gebäude des Tschechischen Rundfunks stand im Zentrum des Widerstandes. Hier kam es zu Schießereien, ein Munitionswagen explodierte, es gab Tote und Verletzte. Mitarbeiter des Rundfunks nahmen sich Aufnahmegeräte und Übertragungswagen und gingen in den Untergrund, hielten dort einen subversiven Sendebetrieb aufrecht, den die Invasoren trotz des militärischen Erfolges nicht unter Kontrolle bringen konnten.

Im Allgemeinen aber trat die Bevölkerung der Tschechoslowakei den Okkupanten unbewaffnet in den Weg. Tausende von Menschen strömten in die Innenstädte, setzten sich mit allen möglichen Tricks zur Wehr. Sie verdrehten Straßenschilder, so dass die Panzer orientierungslos im Kreis fuhren, verteilten Karikaturen und Flugblätter, diskutierten mit den Soldaten über sowjetische Propagandalügen. Viele Soldaten hielten dem Druck nicht stand und mussten ausgewechselt werden.

Das Ende des Reformversuchs

Am 22. August 1968 wurde die gesamte Partei- und Regierungsspitze nach Moskau verschleppt. Dubček und seine Mitarbeiter wurden in erniedrigende Verhandlungen verstrickt, an deren Ende das Moskauer Protokoll stand: Dies besiegelte das Ende des Reformkurses und beinhaltete noch dazu die Stationierung sowjetischer Truppen in der Tschechoslowakei. Dubček unterschrieb. Die Sowjets konnten ihn nicht einfach absetzen, dazu war sein Rückhalt in der Bevölkerung zu groß, aber sie konnten dafür sorgen, dass von seinem Reformwerk nichts mehr übrig blieb. Dubček kehrte als gebrochener Mann in seine Heimat zurück.

Im April 1969 gab er sein Amt als Parteichef auf und wurde Ende des Jahres als Botschafter in die Türkei abgeschoben. Nach seinem Parteiausschluss 1970 zog er sich völlig aus der Politik zurück, arbeitete er als Forstarbeiter bei der Forstverwaltung in Bratislava.

20 Jahre später: 1989

Das militärische Eingreifen der Interventionsmächte beendete "die hoffnungsvollste Reformentwicklung, die es je in einem sozialistischen Land gegeben hat" (Ota Šik). 20 Jahre später mussten die Staaten des Ostblocks den Preis für die Unterdrückung der verändernden, vermenschlichenden Kräfte zahlen: mit einem kläglichen Abschied von der Weltgeschichte. Dubčeks politisches Comeback während der Umbrüche des Jahres 1989 war kurz, seine Ideale erwiesen sich als überholt, nicht er, sondern Vaclav Havel wurde Präsident der demokratischen Tschechoslowakei. Als er am 7. November 1992 fünf Wochen nach einem schweren Autounfall seinen Verletzungen erlag, machten Gerüchte über ein mögliches Attentat die Runde – Beweise wurden dafür allerdings nie gefunden.


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