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Berlin-Wahl-Analyse Einäugiger König unter Blinden

Noch nie war eine Partei mit so geringem Stimmenanteil stärkste Kraft. 22 Prozent konnte die SPD in Berlin holen, doch sie gewinnt damit die Wahl und hat dennoch kaum Grund zu feiern.

Von: Daniel Pokraka

Stand: 19.09.2016

 Der Regierende Bürgermeister von Berlin und Spitzenkandidat Michael Müller (SPD) winkt am 18.09.2016 nach ersten Ergebnissen zu der Abgeordnetenhauswahl in Berlin | Bild: picture-alliance/dpa/ Rainer Jensen

SPD und CDU – beide Senatsparteien holten sich eine Klatsche ab. Für beide setzte es das schlechteste Wahlergebnis seit 1949. Nur einige von zahlreichen Gründen: Der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) ist so unbeliebt wie kaum ein anderer deutscher Regierungschef – und hat das Glück, dass die Berliner seinen Herausforderer Frank Henkel (CDU) noch weniger mögen.

Sympathie, Kompetenz, Glaubwürdigkeit, Führungsstärke – in allen Kategorien schneidet Henkel schlechter ab als Müller. Dessen SPD attestieren die Wähler, man wisse zurzeit nicht, wofür sie inhaltlich steht – und sie habe es in vielen Jahren an der Regierung nicht geschafft, die wirklichen Probleme Berlins anzupacken. Trotzdem gilt die SPD in den meisten Politikfeldern als kompetenteste Partei. Entsprechend wird die SPD vor allem aus sachlichen Gründen gewählt, teilweise auch aus Tradition – aber kaum aufgrund ihres Spitzenkandidaten.

CDU-Chef Henkel bot Rücktritt an

Nach der Niederlage seiner Partei zog der Berliner CDU-Chef Frank Henkel die Konsequenzen und bot an, sein Amt zur Verfügung zu stellen. Wie eine Parteisprecherin mitteilte, sei Henkel aber vom Parteipräsidium gebeten worden, die Partei weiterhin zu führen. Bei der nächsten turnusmäßigen Wahl des Landesvorstands werde er aber nicht mehr antreten.

Berliner wollen Rot-rot-grün

Rot-Schwarz ist also abgewählt – und auch rein rechnerisch nicht mehr möglich. Der neue Berliner Senat wird aus drei Parteien bestehen. Geht es nach den Wählern, dann heißen diese Parteien SPD, Linke und Grüne. 52% sagen: Rot-rot-grün wäre eine gute Koalition für Berlin. Andere Dreier-Bündnisse (SPD/CDU/FDP oder SPD/Grüne/FDP) sind bei den Berlinern deutlich weniger beliebt – und zum Teil auch gar nicht rechnerisch möglich. Obwohl die SPD abgewatscht wurde, führt bei der Koalitionsbildung nichts an ihr vorbei. Ein Dreierbündnis ohne die Genossen ist politisch schon deshalb undenkbar, weil die CDU weder mit der AfD noch mit der Linken koalieren würden. Abgesehen davon ist eine SPD-geführte Regierung der Wunsch der Berliner (57%); dass die Genossen nach vielen Jahren in Regierungsverantwortung auf die Oppositionsbank wechseln sollte, findet nur eine Minderheit der Berliner (40%).

Keine Bundestagswahl

Wirtschaft und Arbeit, soziale Gerechtigkeit, Bildung, Schule, Mieten und Wohnungsbau – nur einige der Themen, wegen derer Wähler der „etablierten“ Parteien ihr Kreuz machten. Natürlich: Auch die Flüchtlingspolitik spielte bei der Wahlentscheidung eine Rolle. Das Ergebnis der AfD wäre anders gar nicht erklärbar. Aber Ängste und feindliche Einstellungen gegenüber Flüchtlingen sind in Berlin deutlich weniger verbreitet als in Mecklenburg-Vorpommern. Entsprechend konzentrierten sich die Berliner Wähler eher auf die (zahlreichen) Probleme ihrer Stadt. Dass es dabei um Fragen der sozialen Gerechtigkeit ging, nützte der Linken, die deutlich zulegen konnte, während die FDP enttäuschte CDU-Wähler zurückholte.

Die Berliner sind sich einig über die Probleme ihrer Stadt

Berlin hat eine unfähige Verwaltung, der Graben zwischen arm und reich ist größer geworden, es wird viel gebaut und saniert, aber nicht da, wo es nötig wäre, Berlin lässt viele Chancen liegen, die sich der Stadt bieten und egal, wer regiert: keine Partei bekommt die Probleme Berlins in den Griff. All diese (zum Teil vernichtenden) Aussagen unterschreibt die Mehrheit der Wähler von SPD, CDU, Linken, Grünen, FDP und AfD. Mal eindeutig, mal weniger eindeutig, natürlich – aber bemerkenswert ist es schon, wie sehr sich die Berliner einig sind in der Diagnose, die sie ihrer Stadt stellen.

Wer AfD wählt, wählt aus Enttäuschung und wegen Flüchtlingen

Mögen die Ergebnisse der etablierten Parteien schwach sein – wer sie wählte, machte sein Kreuz eher aus Überzeugung (SPD 64%, CDU 65%, Linke 63%). Bei der AfD ist es genau umgekehrt: Die Enttäuschung über andere ist das wichtigste Wahlmotiv (69%). Inhaltlich geht es anders als bei allen anderen Parteien vor allem um das Thema Flüchtlinge (68%) und die innere Sicherheit. Dass die AfD die wichtigsten Aufgaben der Hauptstadt lösen kann – das glauben nur drei Prozent der Berliner.


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