18

Brexit may start now Die Entwirrung eines Knäuels

Was die Brexiteers als "Independence Day" feierten, könnte zur jahrelangen Geduldsprobe werden. Dass ein großer Staat versucht, sein komplexes Beziehungsgeflecht zur EU aufzudröseln, ist eine Weltpremiere, bei der viele mitreden - von Brüssel über Edinburgh bis Washington.

Von: Michael Kubitza

Stand: 14.07.2016

Cameron | Bild: dpa-Bildfunk

Artikel 50 des EU-Vertrags schreibt es vor: Bevor ein Mitgliedsstaat die auf zwei Jahre angelegten Scheidungsverhandlungen eröffnen kann, muss er seine Trennungsabsicht erst mal offiziell an die EU melden. Wann das passiert, darüber lagen sich schon Ex-Premier Cameron und die EU-Größen in den Haaren. Das Tempo bestimmen die Briten.

Alles neu mit Mrs. May

Seit Mittwoch hat London eine neue Regierungschefin und sogar einen Brexit-Minister. Doch auch die neue Regierung hat es nicht eilig, die Verhandlungen über Austrittsmodalitäten und das neue rechtliche Verhältnis zur EU zu beginnen. Erst 2017 will Premierministerin Theresa May ihre Austrittsmeldung übermitteln.

Für weitere Verzögerungen könnte eine Klage der Anwaltskanzlei Mishcon de Reya sorgen, die ein Votum des Parlaments einfordert. Sollte die Mehrheit der britischen Abgeordneten wie bisher für einen Verbleib in der EU votieren, wären wohl Neuwahlen nötig - ein neues Referendum hat May ausgeschlossen.

"Nach diesem Referendum stehen wir vor einer enormen Umwälzung unseres Landes. Aber wir sind Großbritannien. Und deshalb werden wir diese Herausforderung meistern. Wenn wir jetzt die Europäische Union verlassen, werden wir eine neue positive mutige Rolle für unser Land in der Welt erfinden."

Premierministerin Theresa May

"Ich müsste dann mal austreten ..."

Erst nach dem britischen Brexit-Antrag kann die Aufdröselung des Knäuels offiziell beginnen. Der bisherige britische Europaminister David Lidington rechnete schon vor dem Referendum damit, dass sich die Gespräche über mehr als zehn Jahre hinziehen könnten. Selbst die Abspaltung Grönlands vom EU-Land Dänemark habe drei Jahre gedauert, so Lidington - und da sei es fast nur um Fisch gegangen.

Der Brexit hingegen kippt eine in 43 Jahren gewachsene, äußerst vielschichtige Beziehungskiste. Zu klären sind unter anderem: Der Rechtsstatus von Briten in EU-Ländern und EU-Bürgern in Großbritannien, die Entkopplung der Finanzströme, das weitere Schicksal des gemeinsamen Binnenmarkts. Zudem wird Großbritannien wohl aus rund 50 EU-Freihandelsverträgen mit Drittstaaten fliegen und müsste neu verhandeln.

Da GB laut Artikel 50 bereits nach zwei Jahren aus allen EU-Strukturen ausscheiden muss, droht eine rechtliche Grauzone zu entstehen.

Beziehungskisten: Alte Partner ...

Auf allzuviel Entgegenkommen der EU-Partner darf das Königreich nicht setzen: Brüssel fürchtet weitere Austrittskandidaten, die man nicht weiter ermutigen will. Zumindest im Prinzip. In der Praxis stehen die Chancen Großbritanniens nicht schlecht, von der Uneinigkeit unter den 27 zu profitieren. Schließlich verbinden jeden der Staaten mit dem Vereinigten Königreich andere Interessen.

  • Am Besten könnte es für die Briten mit Deutschland laufen - auch wenn man nicht die Auffassung von Theresa May's Freundin Catherine Meyer teilt, die beiden Pfarrerstöchter Merkel und May würden "plaudern und kichern und das ganze schon irgendwie regeln". Deutschland möchte seine Exporte nach Großbritannien sichern.
  • In Brüssel dagegen wollen EU-Kommissionspräsident Juncker und Parlamentschef Schulz die Briten aus prinzipiellen Erwägungen nicht so leicht davonkommen lassen. Ähnliche Töne kommen aus Frankreich, wo die Regierung sorgenvoll auf Marine Le Pen und die bevorstehenden Neuwahlen blickt.
  • Polen, Rumänen und Bulgaren wollen ihren in GB lebenden Bürgern vor allem die Freizügigkeit erhalten - für viele Brexiteers ein "No Go".
  • Und dann sind da noch die Iren, die EU-Maßnahmen gegen die Bildung einer neuen britischen Steueroase hintertreiben könnten; liegen die dortigen Steuersätze doch noch unter den vom britischen Finanzminister Osborne anvisierten 15 Prozent.

... und neue Flirts

Chance Nummer Zwei der Briten: neue Freunde und alte Jugendlieben ins Boot holen. In Frage kämen die Staaten des Commonwealth - und die USA.

London-Brüssel-Washington

Brexit-Anführer Farage "Das Königreich feiert seinen Tag der Unabhängigkeit!"


Boris Johnson beschwichtigt Brexit? War da was?


Premierminister Cameron „Werden Artikel 50 noch nicht aktivieren“


Buhrufe für Farage in Brüssel "Wir werden Euer bester Freund sein"


EU-Kommissionspräsident Juncker "Sie haben gelogen!"


Juncker und Farage in Brüssel Freundschaftlicher Plausch


US-Präsident Obama zum Brexit „Zwischen Großbritannien und den USA ändert sich nichts“

Vor dem Brexit hatte Präsident Obama angekündigt, die Briten müssten sich bei Neuverhandlungen "hinten anstellen"; inzwischen klingt er konzilianter. Ob die "Special Relationship" von USA und UK nochmal aufblüht?

Schwieriger dürften sich die Beziehungen zu China und Russland gestalten. Seine Rolle als Anwalt chinesischer Interessen in der EU büßt Großbritannien mit dem Brexit ein, die Investoren aus Fernost beginnen bereits, sich zurückzuziehen. Das Verhältnis der Briten zu Russland war zuletzt ohnehin schlecht - nicht ohne Genugtuung prophezeite Wladimir Putin zuletzt einen "traumatischen Effekt" des Brexit. Allerdings: in Londons Finanzwelt und auf dem Immobilienmarkt sind die Russen wichtige Player.

Zerbricht das United Kingdom?

Kaum einfacher als die Außenpolitik gestaltet sich die Innenpolitik des Königreichs. Die 5,4 Millionen Schotten haben ebenso wie die Nordiren mit klarer Mehrheit für einen Verbleib in der EU gestimmt. Mit dem "Scoxit" kommt bereits das nächste Exit-Kunstwort um die Ecke (und erreichte als Google-Suchbegriff Anfang Juli knapp 26.000 Treffer - mit zuletzt wieder sinkender Frequenz).

Schottland

"Please - don't let Scotland down!" Alyn Smith in Straßburg gefeiert

Alle fünf Parteien im Parlament in Edinburgh plädieren für den Verbleib in der EU. Die Regierungspartei SNP plant bereits die Neuauflage eines Referendums zur Abspaltung Schottlands. Ein unabhängiges Schottland könnte nach dem Brexit einen Wiederaufnahmeantrag stellen. Der aber müsste von den 27 einstimmig angenommen werden. Und während der schottische EU-Parlamentarier Alyn Smith für sein flammendes Plädoyer im Straßburger Parlament stehende Ovationen empfing, melden Spanien und Frankreich schon mal Bedenken an. Europa solle nicht "zur Demontage von Nationen beitragen", so Frankreichs Außenminister Jean-Marc Ayrault.

Einen möglichen Ausweg zeigte Österreichs Finanzminister Hans Jörg Schelling auf, der vorschlägt, nur England solle aus der EU austreten, Schottland sowie Nordirland dagegen weiterhin EU-Mitglieder bleiben. Fest steht: Den EU- und Völkerrechtsexperten geht in der nächsten Zeit die Arbeit nicht aus.


18

Kommentieren

Barbara, Donnerstag, 14.Juli 2016, 21:17 Uhr

11. Eine Britische Reisegruppe fragte mich einmal, wo es zum Deutschen Museum geht.

Ich zeigte ihnen den Weg und fragte die Leute, ob sie aus England kämen. Darauf sagten sie: "We are from the United Kingdom!"
Diese Antwort zeigt das Selbstbewußtsein der Briten.

Barbara, Donnerstag, 14.Juli 2016, 20:39 Uhr

10. Auch Groß-Britannien wird sich in ein geeinigtes Europa einfügen müssen,

auch wenn es jahrhundertelang das sog. "British Empire" zelebriert hat. Diese Zeiten sind nun weiß Gott vorbei!

Extrawurschtler, Donnerstag, 14.Juli 2016, 17:24 Uhr

9. Rest Europas kann froh sein die Briten los zu sein

Europa und England verbindet sehr viel. Allerdings hat GB immer gerne einen Sonderstatus gewünscht und oft erhalten. Das lässt sich gegenüber den anderen Europäern eigentlich nicht verkaufen. Denn es ist ungerecht.
Es wird höchste Zeit mehr Gleichheit herzustellen.

Perlacher, Donnerstag, 14.Juli 2016, 13:55 Uhr

8. Münchner Osten vergessen

"Dass ein großer Staat versucht, sein komplexes Beziehungsgeflecht zur EU aufzudröseln, ist eine Weltpremiere, bei der viele mitreden - von Brüssel über Edinburgh bis Washington. "
... und Trudering.

  • Antwort von Truderinger, Donnerstag, 14.Juli, 14:22 Uhr

    ...und Perlach, denke ich doch:-)

  • Antwort von MarieS, Donnerstag, 14.Juli, 15:14 Uhr

    Allein wegen solch herzerfrischender Kommentare lohnt es sich selbst für Preußinnen vom Niederrhein immer mal wieder in das BR-Forum zu schauen.

PS_ED, Donnerstag, 14.Juli 2016, 13:38 Uhr

7. Wieso Jahrelang?

bei allem Respekt vor den Entscheidungen der Briten, aber
- das Volk hat für den Brexit votiert Die EU -Staaten haben den Willen des Volkes zur Kenntnis genommen!
- GB hat noch nicht Artikel 50 gezogen, aber bekundet dies tun zu wollen!

Also folgt:
- GB hat sich bei allen internen EU-Verhandlungen selbst ausgeschlossen, wenn 27 Staaten einer Meinung ist und GB nicht (wie öfters geschehen), dann so sollte man die Briten darane Erinnern das sie raus wollen!
- GB und externe Verhandlungen der EU mit USA etc. nun auch hier werden die Verhandlungspartner entweder mit der EU oder mit GB verhandlen, wer dies nicht macht, verhandlet um des Verhandelsn willen und dient nicht der Sache! (GB hat irgendwann eigene Verträge)

=> Es sind nur die aktuellen Verträge zu lösen, tja und dies geht in zwei Jahren, siehe Lissaboner Vertrag!

Folglich kanne es nur jahrelang dauern, wenn GB jahrelang nicht den Artikel 50 zieht, aber darauf darf sich keine EU-politiker einlassen!