Momentaufnahme zur Flüchtlingskrise Eine Woche in Bayern
Von Michael Kubitza
3.000 Asylbewerber kamen 2006 nach Bayern. Heute treffen ähnlich viele Flüchtlinge allein im Raum Passau ein - oft an einem Tag. Wer wo ankommt, ob und wohin er weiterreist, ist schwer nachzuverfolgen. Der Versuch eines Überblicks - mit Zahlen, Zelten, Klosterküchen und Drehkreuzen.
Die Anspannung war Brigitte Meier deutlich anzumerken. 55.000 Flüchtlinge, so berichtete die Münchner Sozialreferentin auf einer SPD-Konferenz in Berlin, seien in der ersten Septemberhälfte auf dem Münchner Hauptbahnhof eingetroffen. Sie habe schon überlegt, die Olympiahalle zu öffnen. Aber:
Das war am 15. September. Die emotionale Ruckrede zieht seither Kreise im Internet und wird nicht selten äußerst gehässig kommentiert. Die gute Nachricht: Die Lage am Münchner Hauptbahnhof hat sich seither beruhigt. Seit Wiesnbeginn werden die Züge um München herumgeleitet. Eine Atempause für die Landeshauptstadt - mehr nicht.
"Die Woche der Entscheidung"
Für Ministerpräsident Horst Seehofer war diese Woche "vielleicht die letzte Chance, dass Berlin und Brüssel diese Dinge in den Griff bekommen." Nach dem EU-Gipfel am Mittwoch haben sich am Donnerstag die Länderchefs mit der Bundesregierung getroffen. Dass die Lage ernst ist, sieht man auch daran: Es gibt Ergebnisse.
An vielen Orten in Bayern wird der Ausnahmezustand derweilen zum Alltag.
Warteraum Bayern
Am Dienstag kommen allein im Bereich der Bundespolizeiinspektion Freyung (Niederbayern) wieder 4.500 Flüchtlinge an. Etwa die Hälfte wird registriert, der Rest weitergeleitet.
Niederbayern ist aktuell besonders betroffen. Eine Zeltstadt, errichtet am Wochenende auf einem Kasernengelände in Feldkirchen bei Straubing, bietet momentan 1.500 Flüchtlingen ein Dach über dem Kopf; bis zum Winter soll sich der improvisierte "Warteraum" in ein heizbares Containerdorf mit bis zu 5.000 Schlafplätzen verwandeln.
Der zweite Schwerpunkt: Der Grenzübergang Salzburg-Freilassing. Die Saalach-Brücke ist voll mit Flüchtlingen, die darauf warten, endlich nach Deutschland einreisen zu dürfen.
Die Notquartiere beider Städte sind ständig belegt. Sobald ein Sonderzug 500 Menschen zu einer Erstaufnahmeeinrichtung im Bundesgebiet gebracht hat, kommen schon die nächsten Flüchtlinge nach. Am Bahnhof in Salzburg sammeln sich immer mehr Menschen, die Tiefgarage mit ihren 450 Betten ist voll. Ein umfunktioniertes Möbellager bringt Entlastung.
Für ganz Bayern zählt das Bayerische Innenministerium an diesem Tag 2.542 Neuankömmlinge; 51 abgelehnte Asylbewerber aus Albanien müssen in einer Chartermaschine vom Münchner Flughafen aus das Land verlassen. Mindestens 20.000 Flüchtlinge warten darauf, eine Bleibe in anderen Bundesländern zugewiesen zu bekommen.
Wo die Flüchtlinge unterkommen
Zwei Klöster, beide in Franken. Doch die Bilder könnten unterschiedlicher nicht sein: Während die CSU in Kloster Banz den ungarischen Regierungschef Viktor Orban empfängt, dessen Regierung muslimischen Flüchtlinge im Namen des Christentums die Tür weist, stellen die Erlöserschwestern in Würzburg ihnen seit Oktober 2014 Notunterkünfte zur Verfügung.
Ihr Beispiel macht Schule. Von Münsterschwarzach bis zum Kapuzinerkloster in Dinkelsbühl folgen immer mehr Klöster dem Aufruf von Papst Franziskus und nehmen Flüchtlinge auf. Andere Unterkünfte sind profaner. Die Flüchtlinge übernachten in Kasernen, Turnhallen und Tiefgaragen. Nürnberg hat ihnen vorübergehend das Stadionbad geöffnet, Passau die Dreiländerhalle.
Immer öfter werden die Menschen auch in leerstehenden Industrie- und Gewerbearealen untergebracht. Nächstenliebe ist nicht immer der Grund dafür. Am Freitag sorgt diese BR-Recherche für Aufsehen: Der insolvente Teppichhändlers ARO überlegt, seine Nürnberger Firmenzentrale zur Notunterkunft umzubauen - offenbar ein lukrativeres Geschäft als der Verkauf von Teppichen.
Neue Drehkreuze sorgen für Entlastung
Immerhin: Auch der Rest der Republik kommt in die Gänge. In Würzburg wartet am Mittwoch ein vollbesetzter Flüchtlingszug aus Salzburg auf seine Weiterfahrt ins niedersächsische Uelzen. Seit Anfang der Woche gibt es neue Verteilungszentren am Mannheimer Hauptbahnhof und dem Flughafen Köln-Bonn; weitere "Drehkreuze" in Berlin-Schönefeld, Leipzig und in der Lüneburger Heide sind geplant.
Wieviele kommen? Und wer kommt wohin?
Exakte Zahlen zur Verteilung sind zur Zeit nicht zu bekommen. Im Innenministerium verweist man auf das für die Verteilung zuständige Sozialministerium; dort muss man mit der genauen Aufteilung warten, bis alle "nichtbayerischen" Flüchtlinge das Land verlassen haben.
"Bayern liegt an den Hauptfluchtrouten der Westbalkanroute und der Brennerroute. Dies führt dazu, dass in Bayern sehr viele Asylbewerber erstmalig das Bundesgebiet betreten und erst von hier aus in die anderen Bundesländer weitergeleitet werden. Insgesamt sind in Bayern bis 1. September rund 130.000 Asylbewerber angekommen, seit der Einreisewelle der Asylbewerber aus Ungarn seit 2. September alleine noch einmal über 135.000 zusätzlich."
Ulrike Sparka, Sprecherin Sozialministerium
Die Erfassung ist schwierig. Polizei und Helfer berichten von Sprachproblemen, gefälschten Fahrkarten nach Schweden, verlorenen Registrierungsbändchen. Einige Flüchtlinge verlassen auf eigene Faust ihre Unterkünfte. Am Ende des Tages müssen die Zahlen der an verschiedenen Grenzübergängen dokumentierten oder im Land aufgegriffenen Personen bayernweit abgeglichen werden. Neben der Bundespolizei registrieren auch die Landespolizeien und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die einreisenden Flüchtlinge - nach unterschiedlichen Kriterien.
Am Donnerstag kommt raus: Die Bundespolizei veröffentlicht inzwischen nur noch die Zahl registrierter Flüchtlinge. Wer unregistriert in andere Bundesländer weiterreist, taucht in der bayerischen Statistik nicht mehr auf. Der Präsident des Bayerischen Landkreistages, der Deggendorfer Landrat Christian Bernreiter, sieht das kritisch: Die Bevölkerung bekomme schließlich mit, wie viele Flüchtlinge kämen - da sei es nicht sinnvoll, die Zahlen zu schönen. Die Bundespolizei verweist auf Personalmangel: Alle Flüchtlinge zu registrieren sei unmöglich, eine Schätzung schwierig. Aber: "Wir machen keine Rechentricks", so Pressesprecher Ivo Priebe auf BR-Anfrage.
Die Quote entscheidet
Zumindest die Theorie ist eindeutig. Für die Verteilung in Deutschland gilt bis auf Weiteres der "Königsteiner Schlüssel". Ein Notbehelf: Regelt die 1949 eingeführte Quote doch eigentlich die finanzielle Beteiligung der Länder bei Gemeinschaftsprojekten. Maßgeblich sind zu zwei Dritteln das Steueraufkommen und zu einem Drittel die Bevölkerungszahl - mit dem zweifelhaften Ergebnis, das schwach besiedelte Gegenden mit viel Immobilienleerstand etwa in Brandenburg nur wenige Flüchtlinge aufnehmen müssen, Ballungsräume wie München, Frankfurt oder das Ruhrgebiet dafür umso mehr.
Die Bayern-Quote
Verteilung der Flüchtlinge nach der Asyldurchführungsverordnung (DVAsyl)
Oberbayern 33,9 Prozent
Niederbayern 9,6 Prozent
Oberpfalz 8,8 Prozent
Oberfranken 8,9 Prozent
Mittelfranken 13,5 Prozent
Unterfranken 10,8 Prozent
Schwaben 14,5 Prozent
Auch in Bayern bestimmt seit 2002 die Einwohnerzahl darüber, wo wie viele Flüchtlinge unterkommen. Der Dreisprung, der den Neuankömmlingen dieser Tage bevorsteht: Nach der Erfassung in den Erstaufnahmelagern werden sie - soweit sie in Bayern bleiben - zunächst in Einrichtungen untergebracht, wo sie versorgt und medizinisch betreut werden und ihren Asylantrag stellen. Danach geht es für viele in eine der rund 230 Gemeinschaftsunterkünfte in den sieben Regierungsbezirken.
Hashtag: sprachlos
Fest steht: Auch die kommenden Wochen werden eine Herausforderung für alle Beteiligten. Längst könnten die Geschichten der Flüchtlinge und ihrer Helfer eine Bibliothek füllen. Ein paar davon landen auf der Wand eines Polizeireviers in Passau: Zeichnungen, die die Beamten von syrischen Kindern geschenkt bekommen haben. Eine landet Donnerstagabend im Netz und erntet ähnlich viel Resonanz wie zehn Tage zuvor die Rede der Münchner Sozialreferentin. Am Freitagmorgen ist die Zeichnung allein auf Twitter 2.300 mal geteilt. Wer sie sieht, muss nicht arabisch verstehen, um zu begreifen, wo das Kind herkommt und was es sich von seiner neuen Heimat erhofft.
Überblick
Die Zahl der Asylbewerber
Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) haben von Januar bis August 2015 insgesamt 256.938 Personen in Deutschland offiziell Asyl beantragt. Gegenüber dem Vorjahreszeitraum bedeutet dies eine Erhöhung um 122 Prozent.
Rund die Hälfte darf bleiben
Das Bundesamt hat in der gleichen Zeit 152.777 Entscheidungen getroffen - knapp doppelt so viele wie im Vorjahr. Anerkennung und Ablehnung halten sich dabei die Waage: 57.024 Menschen wurde die Rechtsstellung eines Flüchtlings zuerkannt, 56.873 Anträge wurden abgelehnt. Die übrigen Anträge haben sich im Zuge des Dublin-Verfahrens oder durch Rücknahme erledigt.
Herkunftsländer
Die meisten Asylbewerber - gerundet 56.000 - kommen 2015 aus Syrien, dahinter folgen die Balkanstaaten Albanien (38.000), Kosovo (34.000) und Serbien (21.000). Rund 13.000 Menschen kommen aus dem Irak und Afghanistan nach Deutschland.
Damit ergibt sich derzeit ein relativ klares Gesamtbild: fast die Hälfte der Antragsteller kommt vom Balkan, gut 40 Prozent aus dem Nahen Osten. Afrika fällt mit Ausnahme von Eritrea (6.000) derzeit kaum ins Gewicht: die Flüchtlingsbewegungen dort bleiben derzeit vorwiegend auf dem eigenen Kontinent, was sich mit fortschreitendem Klimawandel ändern dürfte.
Kaum Bleibechancen für Bewerber aus den Balkanstaaten
Die Flüchtlinge aus Südosteuropa kommen, obwohl sie durchwegs keine oder nur geringe Chancen auf Anerkennung haben. Serbien gilt - ebenso wie Mazedonien (10.000) und Bosnien-Herzegowina (5.000) - als sicheres Herkunftsland. Die EU-Kommission arbeitet nach Informationen der FAS an einer europaweit verbindlichen Liste sicherer Herkunftsstaaten, auf der auch Albanien und das Kosovo vertreten sein sollen. Schon bisher werden die meisten Asylbewerber aus diesen Staaten abgelehnt, viele leben aber trotzdem weiter in Deutschland. Bayern hat in diesem Jahr im Zuge von 21 Sammelabschiebungen 2.500 Menschen aus dem Westbalkan ausgeflogen. "Die schnellen Abschiebungen haben auch eine Signalwirkung: Der Weg nach Deutschland lohnt nicht", sagt Bayerns Innenminister Joachim Herrmann.
Die Flüchtlingsrouten
Mal wenige hundert, mal etliche tausend: Die Zahl der Neuankömmlinge in Deutschland ändert sich nahezu im Tagesrhythmus. Hauptgrund dafür: die uneinheitliche und wechselhafte Politik der EU-Staaten. Grenzen werden geöffnet oder geschlossen, Kontrollen verschärft, Züge gestoppt, durch- oder umgeleitet. Längerfristig wirkt sich die Lage in den Herkunftsländern aus. So stieg die Zahl der Flüchtlinge, die über Griechenland nach Europa einreist, von Januar bis Juni ums Fünffache; die meisten sind Syrer.
Wechselnde Krisenherde und Änderungen in der Flüchtlingpolitik der Zielstaaten zusammen ergeben eine ständige Veränderung der Fluchtrouten. Der Weg über das Mittelmeer hat nach der Intensivierung der Frontex-Einsätze gegen Schleuser im Frühjahr bereits an Bedeutung verloren. Nach der Fertigstellung des ungarischen Grenzzauns Mitte September erwarten Kroatien und Slowenien die Durchreise Tausender Flüchtlinge und planen einen Korridor nach Österreich. Die Alpenrepublik ihrerseits stellt sich auf eine Verlagerung der Flüchtlingsrouten in die Alpenrepublik von Ungarn in Richtung Slowenien ein. Griechenland und Bulgarien kündigen an, ihre Grenzzäune zu verstärken, um das Entstehen neuer Flüchtlingsrouten aus der Türkei zu verhindern.