Dachauer Todesmarsch Mehr als 1.000 Tote kurz vor Kriegsende
Am 26. April 1945 trieb die SS Tausende Dachauer Häftlinge auf dem KZ-Appellplatz zusammen: Juden, sogenannte "Reichsdeutsche", aber vor allem Gefangene aus der Sowjetunion. Männer, Frauen und Kinder mussten sich auf einen tödlichen Weg machen.
Für mindestens 1.000 Häftlinge war es der letzte Weg. Der Marsch sollte angeblich in eine ominöse Nazi-"Alpenfestung" im Tiroler Ötztal führen, von deren Nichtexistenz die Gefangenen allerdings nicht unbedingt wussten. Bis heute existieren keine gesicherten Angaben über das tatsächliche Marschziel. Die SS-Schergen trieben die seit Jahren unterernährten, teilweise 50- bis 60-jährigen Häftlinge, die außerdem oft schon von vorangegangenen Märschen oder Transporten geschwächt waren, durch das bayerische Oberland nach Süden: erst durch die Münchner Außenbezirke Allach und Pasing, dann durch das Würmtal bis Starnberg, weiter nach Wolfratshausen und Bad Tölz. Danach sollte es weiter zum Tegernsee gehen, den aber nur einige wenige erreichten. Dazu kamen noch 1.750 Juden, die von Dachau per Bahn nach Mittenwald transportiert werden sollten.
SS-Schergen im Nacken
Infografik
Die Märsche wurden vorwiegend in der Dunkelheit angesetzt, sie sollten von alliierten Flugzeugen nicht entdeckt werden. Den Häftlingen standen nur Holzschuhe zur Verfügung. Obwohl die karge Verpflegung nicht einmal für einen "normalen" Tagesablauf gereicht hätte, mussten die halb Verhungerten auch noch "Scherze" der SS-Posten ertragen, wie Andreas Wagner in seiner umfangreichen Dokumentation über den Dachauer Todesmarsch (siehe nebenstehender Kasten) schreibt. Ein Überlebender des Marsches berichtet: "Diese Posten hatten frisch gebackenes Brot gefasst und machten sich einen Jux daraus, den ausgehungerten, vor Hunger fast irrsinnigen Häftlingen Brot hinzuhalten und sie dann durch Gewehrschüsse zurückzujagen."
Von Kampfhunden getrieben
Dazu kam noch die schwer bewaffnete SS mit ihren Kampfhunden. Wen unterwegs die Kräfte verließen oder wer umfiel, dem drohte, von SS-Männern mit dem Gewehrkolben erschlagen zu werden. Oder sie hetzten ihre Hunde auf die Kehlen der Wehrlosen. Schon auf der ersten Etappe fielen die Gefangenen reihenweise in Ohnmacht, die ersten wurden erschossen. Diejenigen, die es schafften weiterzugehen, schrien teilweise vor Schmerzen.
Bevölkerung mit dem Grauen konfrontiert
Da die SS die Häftlinge auch durch Ortschaften trieb, wurden viele Deutsche zum ersten Mal während der NS-Herrschaft hautnah mit deren Verbrechen konfrontiert, die sie bis dahin nicht hatten wahrhaben wollen. Die langen Häftlingskolonnen waren auch in der Dunkelheit nicht zu übersehen, die Schreie nicht zu überhören. Augenzeugen haben noch heute das Klappern der Holzschuhe in den Ohren. Einige wenige Deutsche versuchten spontan, die ausgemergelten Gefangenen mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Doch die SS unterband sofort jeden Versuch, den sie entdeckte. Meistens durfte nicht einmal ein Schluck Wasser gereicht werden.
Rare Fotodokumente des Todesmarsches
Die SS wollte verhindern, dass fotografische Zeugnisse des Todesmarsches der Nachwelt erhalten bleiben. Benno Gantner, Restaurator aus Starnberg-Percha, fotografierte dennoch heimlich vom Balkon seines Elternhauses die gespenstische Kolonne. Es sind fast die einzigen bekannten Aufnahmen vom Dachauer Todesmarsch.
Tragische Irrtümer
Die Zahl der Toten stieg auf täglich Hunderte. Allein in einem Massengrab im Bolzwanger Forst südlich von Wolfratshausen begrub man 66 Leichen. Auch die Zugtransporte überlebten viele nicht. In Tutzing am Starnberger See fand man später 54 Leichen in den Güterwaggons, im nahe gelegenen Iffeldorf 17. Die meisten starben durch die SS oder nach Entkräftung.
Aber auch amerikanische Tiefflieger hatten die Züge beschossen, weil sie die Piloten für Nazi-Truppentransporte hielten. Es ist nicht auszuschließen, dass dabei einige Häftlinge von den Befreiern in spe tödlich getroffen wurden. Solche fatale Irrtümer der Amerikaner kosteten auch Häftlingen anderer Zugtransporte das Leben - so auch einigen auf dem Weg von Flossenbürg nach Dachau.
"Bei einem Stop wurden plötzlich die Türen des Waggons aufgebrochen, und als ich zu der Öffnung des Zuges kam, wurde ich angeschossen. Ich habe gefühlt, daß mir ganz heiß wurde und das Blut zu fließen begann ... Einige Mithäftlinge zogen mich vom Wagen herunter. Ich habe mich dann in das Wäldchen bei den Gleisen in Deckung geschleppt. Die Wachmannschaft war zu diesem Zeitpunkt bereits geflohen. Und ich lag da zwischen Schwerverletzten und Toten ... Als die Amerikaner kamen, schauten sie nach, wer noch lebte und wer nicht mehr. 'He is dead, he is dead', riefen sie immer wieder. Beinahe hätten sie mich auch unter die Leichen eingereiht. Ich hob schwach die Hand, sie kamen zu mir."
Samuel Kutschinski, als Häftling in einem Güterzug transportiert (zitiert aus: Münchner Nachkriegsjahre, Lesebuch zur Geschichte des Münchner Alltags, hrsg. von der Landeshauptstadt München, 1997)
Aufgewacht und in Freiheit
Am vierten Marschtag befahl die SS, das Nachtlager östlich von Reichersbeuern, kurz vor Waakirchen, aufzuschlagen. Am nächsten Morgen, dem 2. Mai, waren die Häftlinge frei, ohne dass sie es zunächst gemerkt haben: Während sie schliefen, waren ihre Peiniger getürmt - geflohen vor den US-Panzern, die schon in Hörweite auffuhren. Für 15 kamen sie allerdings um einen Tag zu spät. Sie starben in der letzten Nacht, 200 Meter vor Waakirchen.
Der Großteil der Überlebenden begab sich nach Waakirchen. Dort mussten sie den Einheimischen erst von ihrem Schicksal berichten, bevor diese das Misstrauen gegen "die KZler" ablegten. Am Nachmittag des 2. Mai trafen dort auch die ersten US-Soldaten ein. Eine andere Gruppe des Todesmarsches wurde von der US-Armee am Tegernsee befreit. Einen Großteil der Geschundenen brachten die Amerikaner zunächst in eine ehemalige Junkerschule der SS in Bad Tölz, um sie dort zu versorgen.
Wie viele der mit Außenlagern insgesamt 10.000 Dachauer Häftlinge durch die extremen Strapazen des Todesmarsches umkamen, ist nicht geklärt. Die Angaben schwanken zwischen 1.000 und 3.000. Sie starben entweder durch Erschöpfung oder durch die Hand der SS, die Gefangene erschossen, erschlugen oder durch ihre Hunde töteten.
Zähes Erinnern an den Dachauer Todesmarsch
Wie so viele lokale Nazi-Gräuel wäre auch der Dachauer Todesmarsch beinahe dem Vergessen anheimgefallen. Erst als ein Gautinger Gymnasiast in den 80er-Jahren für seine Facharbeit zu diesem Thema auf Recherche ging, begann die Aufarbeitung. Angeregt durch weitere Initiativen aus der Region, startete Gautings Ex-Bürgermeister Ekkehard Knobloch eine Ausschreibung für Mahnmale an Orten entlang des Todesmarsches. Der Bildhauer Hubertus von Pilgrim erhielt den Auftrag. Die Mahnmal-Serie zeigt 14 Figuren. Deren schemenhafte Köpfe sollen die Anonymität der Opfer symbolisieren. Mühsam und gebeugt schleppen sich die Gefangenen voran und - so Pilgrim - "vorbei ins Ungewisse".
In einigen Gemeinden - wie Gauting, Gräfelfing, Planegg oder Wolfratshausen - kam die Idee gut an. Andere waren zunächst wenig begeistert - mit teilweise abenteuerlichen Begründungen: So argumentierte man in Königsdorf, man hätte bereits genug Denkmäler. Starnbergs Bürgermeister lehnte damals mit den Worten ab, dann müsste ja "unser gesamtes Land mit Gedenksteinen zugepflastert werden." Geretsried, Gmünd oder Tegernsee fanden es anfangs nicht einmal für notwendig, Knobloch zu antworten.