Tagebuch der Gerichtsreporter Viele offene Fragen an Carsten S.
Vor dem Oberlandesgericht München fand im NSU-Prozess heute der sechste Verhandlungstag statt. Carsten S. schont sich nicht bei seinen Aussagen im NSU-Prozess. Doch zu entscheidenen Punkten sagt er nur wenig.
05. Juni
Mittwoch, 05. Juni 2013
Mit Prognosen, das haben wir alle beim NSU-Prozess gelernt, muss man verdammt vorsichtig sein. Es gab schon viele Überraschungen. Und trotzdem wage ich in der Mittagspause des heutigen Tages eine Vorhersage. So redlich sich Carsten S. auch zu mühen scheint, wahrheitsgemäß und umfassend über seine rechtsextreme Vergangenheit Ende der 1990er-Jahre zu berichten, viel wird von seiner im Vorfeld immer wieder annoncierten Funktion als Kronzeuge der Anklage nicht übrig bleiben.
Große Erinnerungslücken
Denn die Erinnerungen von Carsten S. sind doch sehr lückenhaft. An manches kann er sich erstaunlich gut erinnern, anderes kaum und an manches erst nach beharrlichen Nachfragen. So bringt erst der vorsitzende Richter Manfred Götzl den 33 Jahre alten S. zu Aussagen, die das ganze Ausmaß rechter Gewalttaten greifbar werden lassen. Harmlos klingt noch, wenn S. erzählt, dass er in der Nacht an einer Tankstelle mal einen Feuerlöscher leergemacht habe.
Schon ernster wird die Schilderung, als es um eine Dönerbude geht, die man umgeworfen habe. Alles aber nichts gegen das, was er dann erst auf mehrmaliges Nachfragen erzählt. Als zwei Männer seine Freunde und ihn Nazis nannten, hätten sie diese verprügelt. S. räumt zwei Tritte ein, das Eingeständnis, bei so einer Tat aktiv mitgewirkt zu haben, fällt ihm sichtlich schwer. Er scheint fast den Tränen nah, als er schließlich einräumt, in der Zeitung habe er gelesen, die zwei Männer seien schwer verletzt worden.
Nicht ohne Zweifel
Über die Motivation für solche Taten weiß er erstaunlich wenig zu berichten. Seine Angaben bleiben vage. Mal spricht er davon, dass er sich das heute so zusammenreime, wenn er sagt, dass da wohl "ausländerfeindliche Gesinnung" mitgespielt habe. Oft hat er aber auch große Erinnerungslücken, an anderen Stellen spricht er davon, dass er bestimmte Dinge erst jetzt aus den Medien erfahren habe. Diese durchaus ehrlich wirkenden Angaben werden die Verteidiger mit Sicherheit dazu nutzen wollen, um die Aussage von Carsten S. insgesamt in Zweifel zu ziehen. Auch und gerade bei seinen ohnehin spärlichen Einlassungen zum NSU.
Kontakte zu Zschäpe?
S. berichtet, er habe einen "Kontaktjob" gehabt. Auf Anweisung des Mitangeklagten Ralf Wohlleben über eine Handy-Mailbox vom untergetauchten NSU-Trio Aufträge erhalten. Und das eigentlich ausschließlich von den "beiden Uwe’s", also von Bönhardt und Mundlos. Etwa ein Motorrad für sie zu stehlen. Beate Zschäpe habe bei all dem kaum eine Rolle gespielt.
Auch nicht bei der Beschaffung des Ceska-Pistole, die bei neun der zehn NSU-Morde die Tatwaffe war. Befragt vom Richter, ob er sich nicht Gedanken gemacht habe, warum er eine Pistole mit Schalldämpfer besorgt habe, liefert der 33-jährige Angeklagte aus heutiger Sicht keine überzeugende Antworten. Die sich zudem in Details von denen bei den ersten Vernehmungen der Bundesanwaltschaft unterscheiden. Auch das werden die Verteidiger zu nutzen wissen.
"Er hat versucht, seine mageren Erinnerungen hervorzukramen und viele Erinnerungslücken mit Schlussfolgerungen auszufüllen. Warum er das macht, weiß ich nicht", bewertet Olaf Klemke, der Verteidiger des Mitangeklagten Ralf Wohlleben, die Aussage. Und er wirkt nach Ende des heutigen Verhandlungstages um 16.00 Uhr sichtlich zufrieden. Schließlich wäre sein Mandant am stärksten belastet, wenn das Gericht am Ende der Darstellung von S. glaubt.
Irritierte Nebenkläger
Viele Nebenklägeranwälte sind dagegen wegen der vielen Erinnerungslücken von Carsten S. irritiert: "Seine bisherige Aussage ist nicht geeignet, um von einem besonders wichtigen Zeugen zu sprechen", sagt Angelika Lex. Die Juristin vertritt die Witwe des in München ermordeten Griechen Theodoros Boulgarides.
Ob Verteidiger und Nebenklägeranwälte morgen Gelegenheit bekommen, den wegen neunfacher Beihilfe zum Mord angeklagten 33-Jährigen zu befragen, ist unklar. Möglicherweise wird zunächst Holger G. gehört, der bis zum Schluss ein wichtiger Helfer des NSU gewesen sein soll. Der muss sich wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verantworten. Seine Aussage könnte vor allem Beate Zschäpe belasten.