100. Verhandlungstag, 1.4.2014 Richter Götzl platzt der Kragen
Ungewöhnlich scharfe Töne waren heute während des NSU-Prozesses im Münchner Oberlandesgericht zu hören. Richter Manfred Götzl drohte einem Zeugen, der nicht recht aussagen wollte, sogar Ordnungshaft an.
01. April
Dienstag, 01. April 2014
Manfred Götzl gilt ja gemeinhin als "harter Hund" unter den Richtern des Münchner Oberlandesgerichts. Einer, der auch mal explodieren kann, wenn ihm ein Zeuge oder Verteidiger quer kommt. Doch mit den Neonazi-Zeugen im NSU-Prozess hat der Vorsitzende Richter bislang eine beeindruckende Geduld an den Tag gelegt – manche sagen auch: viel zu viel Geduld. Selbst wenn auf den Zuschauerrängen schon längst laut aufgestöhnt wird, angesichts eines ganz offensichtlich lügenden Zeugen, bleibt Götzl ruhig, fragt stoisch weiter. Ordnungsstrafen wegen Falschaussagen oder unberechtigter Aussageverweigerung hat es bislang im Münchner NSU-Verfahren noch nicht gegeben – heute, am 100. Verhandlungstag, wäre es fast soweit gewesen.
Erkenntniswert der Aussage gleich Null
Denn der Zeuge Thomas R. aus Chemnitz – ein stark tätowierter Glatzkopf mit Vollbart – war nicht nur besonders dreist, wenn es darum ging, Erinnerungslücken geltend zu machen. Er, der zeitweise bei der militanten Neonazigruppe Skinheads 88 mitgemischt hatte, wollte angeblich nicht einmal wissen, was die Zahlenkombination 88 bedeuten solle (ein längst weit über die Neonaziszene hinaus bekannter Code für "Heil Hitler"). Als er dann auch noch dem Richter ins Gesicht sagte, er werde über seine früheren Freunde beim Neonazi-Musiknetzwerk Blood and Honour schweigen, da wurde Götzl schließlich deutlich und drohte dem Zeugen Ordnungshaft an.
Thomas R. kam schließlich doch noch einmal davon, weil er sich auf ein angeblich gegen ihn laufendes Ermittlungsverfahren berief, was das Gericht auf die Schnelle nicht nachprüfen konnte. Er muss allerdings noch einmal vor dem Oberlandesgericht erscheinen.
Justiz ein zahnloser Tiger?
Mag das Vorgehen von Richter Götzl aus juristischer und prozesstaktischer Sicht auch geschickt sein. Für die auch heute wieder zahlreichen Beobachter oben auf der Zuschauertribüne bleibt ein schaler Geschmack zurück: Dass sich die Neonazis aus dem NSU-Umfeld vor Gericht praktisch alles erlauben können. Dass der Rechtsstaat keine Möglichkeit hat, Lügner zur Raison zu bringen, wenn sie sich einigermaßen geschickt anstellen. Und dass damit die eigentlich hoch und heilig von der Bundeskanzlerin versprochene Aufklärung des NSUs, seiner Taten und seines Umfelds auch vom Oberlandesgericht nicht geleistet werden kann – jedenfalls nicht in dem Maße, wie es die Angehörigen der Opfer und auch weite Teile der Öffentlichkeit erwarten würden.
Das öffentliche Interesse ist weiterhin hoch, auch am heutigen 100. Verhandlungstag waren die Zuschauerbänke gut gefüllt. Doch bei vielen Beobachtern verfestigt sich der Eindruck, dass die restlose Aufklärung des Nationalsozialistischen Untergrunds kaum vorankommt. Und vielleicht auch nie kommen wird.