NSU-Prozess: Gerichtssaal-Protokoll 150. Verhandlungstag, 15.10.2014
Einziger Zeuge an diesem Prozesstag ist Jan W., ein ehemaliger Sektionsleiter des Neonazi-Netzwerks "Blood & Honour". Er soll Kontakt zum Trio und den Auftrag gehabt haben, für den NSU Waffen zu besorgen.
Da gegen W. bereits ein Verfahren läuft, macht er von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch. Im Anschluss werden mehrere Urteile gegen Uwe Böhnhardt wegen Volksverhetzung verlesen: 1996 brachte er an einer Brücke in der Nähe von Jena eine Puppe mit einem Judenstern an, um deren Kopf eine Schlinge lag. Mit der Puppe war eine Bombenattrappe verbunden. Zum Schluss werden Vernehmungsprotokolle Böhnhardts verlesen, in denen er abstreitet, mit der Aktion etwas zu tun zu haben, obwohl seine Fingerabdrücke auf der Attrappe gefunden worden waren.
Zeuge:
Jan W. (Umfeld Angeklagte)
ARD-Reporter über das Geschehen im Gerichtssaal
(Thies Marsen, BR)
Beginn 9.47 Uhr: Publikumsandrang auch heute eher bescheiden - etwa 20 Zuschauer, 15 Presseleute, Zschäpe im langärmligen Ringel-T-Shirt, dunkelblau-weiß.
(Eckhart Querner, BR)
Götzl: Ermittlungsverfahren gegen Jan W. wegen Verdachts der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung besteht weiter. W. soll 1998 Auftrag erhalten haben, eine Waffe für Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos zu besorgen. W. war damals Chef der Sektion Sachsen von "Blood & Honour". Verfahren läuft nach wie vor deshalb besteht weiter umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht des Zeugen.
(Thies Marsen, BR)
Zeuge Jan W., schwarzer Vollbart, Kopf kurzgeschoren (hätte aber sowieso eine Glatze), weißes Hemd; 39 Jahre alt, Berufskraftfahrer aus Chemnitz, ledig, kinderlos.
Götzl belehrt über Aussageverweigerungsrecht
Es geht heute um die Sachen, die Gegenstand des Ermittlungsverfahrens sind.
G: Machen Sie Angaben?
W: Nein.
Götzl: Ich nehme an, der Zeuge kann entlassen werden.
W: Schönen Tag noch, danke!
Erklärung Rechtsanwalt Hoffmann (Nebenklage Keupstr.): Mit großer Wahrscheinlichkeit bestand NSU nicht nur aus drei Personen und wenigen Unterstützern. Es gab feste organisatorische Zusammenarbeit mit "Blood & Honour", wo Jan W. Sektionsleiter war.
Zschäpe-Verteidiger Stahl: mit Hinblick auf Nebenklage und besonders auf Rechtsanwalt Hoffmann: Zeigt, dass Teile der Nebenklage kein Interesse daran haben, dass hier etwas Rechtsstaatliches herauskommt. Wer hier so argumentiert, wenn einer von seinem umfassenden Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch macht, der hat Rechtsordnung nicht verstanden.
(Thies Marsen, BR)
10.36 Uhr.
Verlesung Urteil Amtsgericht Jena über Uwe Böhnhardt (Verhandlungen am 10.4.97 und 21.4.97): Der Angeklagte ist des versuchten gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in Tateinheit mit Volksverhetzung schuldig. Wird zu 3 Jahren und 6 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Die CDs "Macht und Ehre", "Landser", "Kommando Perno", "Breslau" werden eingezogen.
Auszug aus der Begründung: Über den Angeklagten: Mutter ist dominant. Angeklagter entzog sich seinen Eltern, nicht verarbeiteter Tod seines Bruders, in der 5.Klasse Leistungsprobleme und „Schulbummelei“, in der 6. durchgefallen, schloss sich deutlich älterem Bekanntenkreis an, in der 7. ins Heim eingewiesen, kurz darauf wieder nach Hause. Nach 8 Schuljahren mit Ende der 7. Klasse Schule beendet, 1996 Abschluss der Lehre zum Hochbaufacharbeiter. Im Herbst 1996 gekündigt, danach arbeitslos, dreimal strafrechtlich in Erscheinung getreten: 1993 Diebstahl in besonders schwerem Fall, Fahren ohne Fahrerlaubnis, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, zu Bewährungsstrafe verurteilt.
1993: gefährliche Körperverletzung - zu zwei Jahren verurteilt - wieder auf Bewährung.
Am 12.4.96 feierte ein Tino B. (nicht Tino Brandt). Wohlleben, Mundlos, André K., gingen gemeinsam zu der Feier - eine Feier der rechten Szene.
Der Angeklagte machte sich gemeinsam mit insgesamt vier anderen im Auto auf den Weg. Eine Zeitlang gefeiert, dann in der Nacht auf den 13. [April 1996] gegen 24 Uhr mit dem PKW seiner Eltern auf den Weg zur Pösener Brücke, dort angekommen brachte der Angeklagte auf der Autobahnbrücke einen Puppentorso an mit Gelbem Davidstern, 25 cm lang, mit der Aufschrift "Jude". Kopf in einer Schlinge. Der Angeklagte schürte Hass gegen die Juden und das Judentum. Zwei Kartons wurden abgestellt, mit Kabel verbunden und ein Kabel zur Puppe gelegt, auf ein Verkehrszeichen schrieb er "Vorsicht Bombe" (es gab allerdings keine Bombe).
(Eckhart Querner, BR)
Später werden einwandfrei Böhnhardts Fingerabdrücke auf dem Karton festgestellt, aber Böhnhardt behauptet, man wolle ihm etwas unterschieben.
Pause bis 10.55 Uhr
Fortsetzung um 11:08 Uhr
Verlesung Urteil Landgericht Gera vom 16.10.1997:
In der Strafsache gegen Uwe Böhnhardt wegen Volksverhetzung:
Urteil des Amtsgericht Jena wird aufgehoben. Strafmaß nun: 2 Jahre 3 Monate.
Gründe: Uwe Böhnhardt wurde durch Jugendschöffengericht Jena wegen des versuchten gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in Tateinheit mit Volksverhetzung und Androhung von Straftaten verurteilt.
Berufungsverhandlung führte zu folgenden Ergebnissen: folgt Vita Angeklagter, Geburt, Kindheit, Schulzeit. Ein erster Bruch: 1988 verstarb der ältere Bruder, war eine wichtige Bezugsperson. Einengung durch Verwöhnung durch Eltern. Schulische Probleme. April 1992 erfolgte Einweisung in Kinderheim in Burg. Entlassung nach zwei Wochen wegen versch. Straftaten. Anschließender Schulbesuch unregelmäßig. 1993 zum ersten Mal in U-Haft. Zweite Einweisung ebenfalls 1993. Dann erst wieder 1995 strafrechtlich auffällig. 1993 bis 1994 Förderlehrgang. Sommer 1996 Abschluss als Hochbau-Facharbeiter. Übernahme durch ausbildenden Betrieb. Kündigung wenige Monate später wegen Auftragsmangel. Uwe Böhnhardt wohnt zu Hause, bezieht noch kein Arbeitslosengeld. Früher erhielt er ca. 700 DM Arbeitslosengeld, gab 250 bis 300 DM zu Hause ab. Nach dem Tod des Bruders starke Belastung, wechselte Schule. Dort keine Akzeptanz. Dann Anschluss an rechte Gruppe, wo er Halt findet. Zwischendurch selbst Opfer von Skinhead-Übergriff.
Strafbarkeit 1993, wegen fortgesetzten Diebstahls, Fahrens ohne Fahrerlaubnis, Widerstand wegen Vollstreckungsbeamte usw., Jugendstrafe, wegen Erpressung 12/1993, 3 Jahre Jugendstrafe, zur Bewährung ausgesetzt
Zu aktueller Anklage: Anbringung Puppe mit Judenstern und Deponierung zweier Kartons als Bombenattrappe. Nach Tat Fahrt in Wohnung Zschäpe nach Jena. Dort angeblich Nintendo und Skat gespielt (natürlich "mit deutschem Blatt", wie es im Urteil heißt). Für Bergung der Puppe und Sicherstellung, dass es sich um Attrappe handelte, musste die Autobahn für drei Stunden gesperrt werden. Am Tatort kaum Spuren, darunter aber ein Fingerabdruck von Böhnhardts linkem Mittelfinger.
Böhnhardt leugnet, mit der Tat etwas zu tun zu haben.
Mittagspause bis 13:00 Uhr
(Eckhart Querner, BR)
Fortsetzung 13:08 Uhr
Beschluss: Verlesung der polizeilichen Vernehmungen Böhnhardts wird angeordnet.
Vernehmung Uwe Böhnhardts vom 20.6.1996, gut zwei Monate nach dem Aufhängen der Puppe an Autobahnbrücke: Vorhalt: Sie werden beschuldigt, Puppe aufgehängt und Bombenattrappe deponiert zu haben.
Böhnhardt: Ich kann nur sagen, dass ich das nicht gewesen bin. Ich bin national, ich fühle durch und durch deutsch.
(Thies Marsen, BR)
Böhnhardt streitet ab, die Puppe aufgehängt zu haben: "Ich kann überhaupt nichts dazu sagen. Vielleicht will mir jemand etwas anhängen" - wer weiß er aber nicht.
(Eckhart Querner, BR)
Böhnhardt bekommt während des Verhörs Gelegenheit, sich für fünf Minuten mit seiner ehemaligen Freundin Beate Zschäpe zu unterhalten. Böhnhardt beauftragt Zschäpe, sich zu erkundigen, wo er sich in der fraglichen Zeit (12./13.4.96) aufgehalten hat.
Kaffee, Zigarette, Bockwurst mit Kartoffelsalat (Böhnhardt hat sie selber gezahlt)
Vernehmung Uwe Böhnhardt vom 18.7.1996:
Böhnhardt: Ich kann angeben, was ich in der fraglichen Nacht gemacht habe. Ich war mit S., Zschäpe, Mundlos zusammen.
13:55 Uhr - Ende für heute
Hinweis
Diese Texte sind eine Auswahl der Mitschriften der Reporter der ARD und des BR während der zentralen Verhandlungstage im sogenannten "NSU-Prozess", eines beispiellosen Verfahrens der deutschen Rechtsgeschichte. Wir dokumentieren diesen "Originalton", weil es in der deutschen Praxis des Strafprozessrechts, selbst bei derartig wichtigen Verfahren, kein offizielles und umfassendes Gerichtsprotokoll gibt. Wir erfüllen damit unsere Informationspflicht, um allen, die keinen der begehrten Sitzplätze im Gerichtssaal erhalten haben, einen - durchaus auch subjektiven - Eindruck der Prozessereignisse zu vermitteln. Die Zusammenfassungen der sogenannten "Saalinfos" unserer Reporter sind redaktionell bearbeitet, zum Teil gekürzt. Es wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben und es kann natürlich auch keine Gewähr für die Richtigkeit jedes einzelnen Wortes gegeben werden. Die Redaktion distanziert sich ausdrücklich von den Inhalten der Aussagen der Prozessteilnehmer.