NSU-Prozess: Gerichtssaal-Protokoll 176. Verhandlungstag, 21.1.2015
Heute werden die Vernehmungen zum Anschlag in der Kölner Keupstraße im Jahr 2004 fortgesetzt. Acht Zeugen, die durch den Bombenanschlag zum Teil schwerste Verletzungen erlitten, schildern jeweils wie sie den Anschlag auf einen Friseursalon erlebt haben.
Dies fällt vielen Zeugen sichtlich schwer, da sie bis heute psychisch und körperlich unter den Folgen des Anschlags leiden. Erneut werden Fehler bei den Ermittlungen deutlich - die Opfer wurden von der Polizei während der Vernehmungen wie Verdächtige behandelt, einige sogar observiert, da man sie selbst für die Täter hielt. Falsche Gerüchte führten dazu, dass sich auch das nahe Umfeld der Opfer von ihnen abwandte.
Zeugen:
- Gerd H. (Verletzter des Anschlags Köln-Keupstraße)
- Metin I. (Verletzter des Anschlags Köln-Keupstraße)
- Emine K. (Verletzte des Anschlags Köln-Keupstraße)
- Fatih K. (Verletzter des Anschlags Köln-Keupstraße)
- Atila Ö. (Verletzter des Anschlags Köln-Keupstraße)
- Abdullah Ö. (Verletzter des Anschlags Köln-Keupstraße)
- Dr. Peter H., St- Marien-Hospital Köln (Behandlung Atila Özay und Abdullah Özkan im Jahr 2004)
- Tamer A. (Verletzter des Anschlags Köln-Keupstraße)
- Hasan Y. (Verletzter des Anschlags Köln-Keupstraße)
ARD-Reporter über das Geschehen im Gerichtssaal
(Tim Aßmann, BR)
Zuschauertribüne wieder komplett gefüllt (viele Zuhörer aus Köln von der Initiative "Keupstr. ist überall"), vor dem Gericht ist außerdem eine Schlange.
Beginn 9.57 Uhr
Feststellung der Anwesenheit: Gamze Kubasik, Elif Kubasik und weitere neun Nebenkläger sind im Saal anwesend, darunter auch Sandro D´Alauro und Kemal G., die gestern ausgesagt haben.
(Ayca Tolun, WDR)
Zschäpe hat sich verspätet, heute ganz in schwarz, Laptop geschlossen, macht einen entspannt bis fröhlichen Eindruck
(Julian von Löwis of Menar, BR)
Zeuge Gerd H. wird aufgerufen und belehrt.
11.6.1936 geboren, seit 18 Jahren Rentner, aus Bergisch-Gladbach.
Götzl: Es geht uns um Ereignisse vom 9.6.2004. Was hat sich damals zugetragen, ich bitte Sie von sich aus zu berichten.
H: Ich bin mit meinem Fahrrad unterwegs gewesen, es war ein herrlicher Sonnentag, es war auf der rechten Straßenseite - und jetzt muss ich etwas gestehen - entgegen der Einbahnstraße. Es war schönes Wetter, die Leute saßen draußen vor den Geschäften. Auf der Höhe des Friseurladens blickte ich nach links, weil dort eine Eisfahne hing und sich dort einige Personen aufhielten. Dann hat es einen Knall gegeben, den ich nie vergessen werde. Es rasselte, ich bekam Angst und einen furchtbaren Schmerz in den Ohren, ich dachte mein Trommelfell ist geplatzt und ich hab die Straße dann fluchtartig verlassen. Ich hatte nur mit meinem Schmerz in meinem Kopf zu tun. In Windeseile kamen die Menschen aus den Restaurants geströmt, aber ich hatte nur mit meinem Schmerz zu tun, der unbegreiflich schlimm war.
(Tim Aßmann, BR)
H: Am Ende der Keupstr. sah ich eine schwarze Limousine rückwärts aus der Keupstr. rausfahren. Ich nahm dann Kontakt zur Polizei vor Ort auf, die haben mich an die Feuerwehr verwiesen, dann wurde ich auch registriert und in Omnibus der Feuerwehr gebeten. Da waren auch Mitgeschädigte. Ich hielt mich zurück, weil ich mit meinen Schmerzen zu tun hatte. Anschließend kam ein Amtsarzt und stellte Knalltrauma fest, kam dann mit Krankenwagen ins Krankenhaus und wurde dort versorgt.
Ich bin in der Notaufnahme versorgt worden, weiterführende Untersuchung war notwendig und die Behandlung war gegen 18 Uhr beendet, dann bin ich nach Hause, musste mich erstmal hinlegen und mich beruhigen, am nächsten Tag war Fronleichnamsprozession, besuchte die mit meiner Frau, war Frage, ob sie stattfindet, aber sie fand statt. Am Freitag war mein 68ster Geburtstag und im Familienkreis konnte ich nochmal alles berichten.
Bekam dann Anruf aus Polizeipräsidium Köln, bin dann am Dienstag hin zur Protokollierung der Aussage.
(Tim Aßmann, BR)
Götzl: Welcher medizinischer Befund, welche Therapien?
H: Habe am Montag Kontakt mit Hausarzt aufgenommen und auch mit HNO-Arzt, wurde dann weiterhin medizinisch untersucht: Tinnitus und rechtsseitig Gehörschädigung, auch jetzt noch. Das ist im Kopf ein ständiges Rauschen.
G: Wie stark Gehör beeinträchtigt?
H: Ist eine Minderung erkannt worden, die auch bleibt. In Prozent schwankt das zwischen 25 und 30.
G: Wie wirkt sich das jetzt im Alltagsleben aus?
H: Tinnitus bewegt mich stark. Belastung ist mal hoch, mal runter. Da spielen auch psychische Dinge eine sehr große Rolle.
(Julian von Löwis of Menar, BR)
H: Der Tinnitus dreht mich sehr stark, ich habe mich auch damit beschäftigt wie man das in den Griff kriegen kann. Immer wenn etwas aufgewirbelt wird, dann wird es ganz schlimm. Besonders beim Schlafen oder wenn es ganz still ist.
G: War über die Zeit eine Veränderung festzustellen?
H: Persönlich kann ich mich nur schwer tun, das zu vergessen, das werde ich mein Leben lang nicht können.
(Holger Schmidt, SWR)
G: Wie wirkt es sich im praktischen, alltäglichen Leben aus?
H: Man wird ständig mit diesen Dingen konfrontiert und ich darf das nun mit 78 Jahren sagen, ich versuche das als Bürger in einem demokratischen Miteinander zu tragen, im Sinne eines demokratischen Miteinanders.
(Julian von Löwis of Menar, BR)
G: Zur Behandlung, waren Sie in psychotherapeutischer Behandlung?
H: Ja, aber nach zwei Sitzungen habe ich das abgebrochen, weil das mit meinem Schicksal mit der Keupstraße nichts zu tun hatte.
G: Die Schmerzen?
H: Durch die Transfusionen war das vom Schmerz eine abklingende Situation, zum Hören und vom Tinnitus her ist es nach wie vor sehr belastend.
G: Andere Verletzungen?
H: Nein, aber so einen Knalleffekt habe ich nie erfahren, das war eine 25 Meter hohe Rauchsäule.
G: Ist Ihr Fahrrad getroffen worden?
H: Ja ein Einschlag auf der Felge, aber das war ein Rasseln, ein Scheppern.
(Tim Aßmann, BR)
Rechtsanwältin Basay (Nebenklage Simsek): DNA-Spuren bei Polizei abgegeben?
H: Fingerabdrücke nicht, DNA-Analyse wurde gemacht bei mir.
B: Opferentschädigungsantrag gestellt?
H: Ja.
B: Leistungen bezogen?
H: Nein
(Julian von Löwis of Menar, BR)
Rechtsanwalt Westkamp (Nebenklage Keupstr.): Haben Sie Gegenstände in oder neben der Rauchwolke wahrgenommen?
H: Ja, ein Gegenstand, etwa in der Größe eines Fernsehgeräts, 50x80 cm.
Zeuge wird entlassen.
(Tim Aßmann, BR)
11.25 Uhr
Es kommt der Zeuge Metin I., in Begleitung von Rechtsanwalt Sertsöz
I., Metin, 58 Jahre alt, Juwelier, Bergisch-Gladbach.
Götzl: Beobachtungen am 9.6.2004. Geht darum, was Sie mitbekommen haben und ob Sie betroffen waren?
I.: Damals war ja auch gutes Wetter, sitze meistens vor meinem Laden, Juweliergeschäft, Keupstr., und warte auf Kunden. Wenn keine Kunden da sind, sitze ich wieder auf meinem Klappstuhl.
(Julian von Löwis of Menar, BR)
I: Ich gucke rechts und links, Leute kommen vorbei und dann kamen zwei Bekannte von links, ein Geschäftskollege und ein Cafébesitzer, der allerdings schon verstorben ist. Gerade als die beiden mich begrüßt hatten, gab es den Knall. Wir drei haben uns auf den Boden geschmissen und wir wussten nicht, was los war, ich dacht eine Gasflasche ist explodiert. Als ich wieder zu mir kam, sah ich, das Leute rumliefen oder blutend auf dem Boden lagen, jede Menge Nägel.
Der Zeuge bittet um ein Glas Wasser
G: Die Hausnummer Ihres Geschäftes?
I: 48
I: Dann kamen Krankenwagen, die haben uns zum Krankenhaus gefahren und wir wurden behandelt, ich hatte drei Nägel im Körper, zwei in der rechten Schulter und einen im rechten Bein. Ja, was wollen Sie mich noch fragen?
(Julian von Löwis of Menar, BR)
G: Gibt es auch einen Friseurladen in der Keupstraße?
I: Ja, schräg gegenüber.
G: Sie hatten drei Nägel im Körper, wie schwer waren die Verletzungen?
I: An der Schulter nicht so schlimm, aber im Bein steckte der Nagel tief drin.
G: Mussten Sie im Krankenhaus bleiben?
I: Nein
(Tim Aßmann, BR)
G: Welche Behandlung wurde gemacht?
I: Spritze, wahrscheinlich Tetanus, sauber gemacht, Pflaster drauf, nach Hause geschickt, musste nicht genäht werden.
G: Welche weiteren Behandlungen?
I: Bin nicht weiter behandelt worden, aber habe später gemerkt, dass in meinem rechten Ohr: schwerhörig.
G: Deswegen in Behandlung?
I: Einmal ja. Müsste wahrscheinlich Gerät tragen. Das will ich nicht, muss mal sehen, Schmerzen sind immer schlimmer geworden.
(Ayca Tolun, WDR)
Zschäpe hat jetzt den PC aufgeklappt und schaut durchgängig auf den Bildschirm
(Tim Aßmann, BR)
G: Irgendwelche Personen oder Gegenstände aufgefallen?
I: Weiß nicht, vielleicht war Fahrrad schon vorbei, hab nicht drauf geachtet.
(Julian von Löwis of Menar, BR)
G: Zu Ihren Verletzungen, können Sie uns die näher beschreiben?
I: Ich habe die nicht so sehr ernst genommen, ich arbeite sehr viel und habe wenig Zeit zum Arzt zu gehen.
G. macht Vorhalt aus den Akten: "Schulter: 30 cm lange Schürfwunde und 5 cm lange Wunde an der Wade."
(Tim Aßmann, BR)
I: An Schulter hat nicht lange gedauert bis es verheilt war, aber am Bein geht es irgendwie nicht weg. Dieser schwarze Fleck ist da.
G: Wie hat es sich psychisch ausgewirkt?
I: Natürlich. Wenn ich dran denke, ist schon schwierig. Heute, gestern, war für mich sehr stressig. Manchmal denke ich: Könnte durch diese Nägel Gift in meinem Körper sein? Also das macht mich schon psychisch…(Zeuge beendet den Satz nicht).
G: In Therapie gewesen?
I: Nein
(Julian von Löwis of Menar, BR)
G: Konnten Sie weiter arbeiten?
I: Natürlich, ich kann immer weiter arbeiten, ich kann nicht zu Hause rumsitzen!
G: Hatten Sie Schwierigkeiten in Ihr Geschäft zurückzukehren?
I: Manchmal habe ich schon Angst, wenn ich ein Fahrrad sehe oder jemanden mit Rucksack, dann laufe ich auch mal in meinen Laden rein, da könnte ja wieder etwas sein.
G: Was ist den beiden passiert, die mit Ihnen dort waren?
I: Einer verletzt, einer war nur zu Besuch
G: Hatten Sie noch Kontakt zu den anderen? Wie ist es den anderen ergangen?
I: Das kann ich nicht wissen, ich war schockiert.
(Tim Aßmann, BR)
Rechtsanwalt Kuhn (Nebenklage Keupstr.): Wie hat sich Geschäft weiter entwickelt nach Anschlag?
I: Nicht nur bei mir, allgemein in ganzer Keupstr. verändert, Geschäfte sind sehr, sehr, sehr zurück gegangen, über die Hälfte, heute ist es noch nicht wieder ganz gut.
I: Entfernung zum Friseurgeschäft ca. 15 Meter.
Ende der Zeugenaussage von Metin I.
(Tim Aßmann, BR)
Es kommt, in Begleitung von Rechtsanwältin Müller-Laschet, die Zeugin Emine K.
Ein Dolmetscher kommt auf Wunsch der Zeugin dazu (obwohl die Zeugin nach Angaben der Kollegin Ayca Tolun perfekt deutsch spricht).
Die Zeugin antworte nun aber zunächst auf deutsch: Emine K., gelernte Bürokauffrau.
Götzl: Sollen wir Vernehmung nicht auf Deutsch führen?
Zeugin möchte den Dolmetscher gerne dabei haben.
G: Geht uns um den 9.6.2004, inwiefern Sie betroffen waren?
K (aus dem Türkischen übersetzt vom Dolmetscher): An dem Tag war ich im Laden meines Bruders, welcher sich in der Keupstr. befindet, neben dem Friseurladen, habe Knall gehört, irgendetwas ist vor meine Füße gefallen, habe brennenden Mann wahrgenommen, habe versucht diesen zu löschen, bevor ich damit erfolgreich war, habe ich Polizeiwagen gesehen und die Polizisten zu Hilfe gerufen, konnte Feuer am Bein des Mannes löschen, Sanitäter kamen. Polizisten haben uns aus dem Laden geführt, weil sie Verdacht hatten, dass hinter dem Laden Gasexplosion war, habe sie nach hinten geführt, bin danach wieder raus aus Laden.
Kriminalpolizei wollte mich sprechen. Als ich gesprochen habe, habe ich berichtet, dass es mir schlecht geht, dabei muss ich umgekippt sein, kam ins Krankenhaus, blieb dort, Polizisten kamen dorthin und fragten mich, wie es passiert sei. Nach einer Woche haben sie mich telefonisch kontaktiert und fragten, ob ich ärztliche Hilfe bräuchte, ich habe die in Anspruch genommen, zwei, drei Wochen später kamen sie (Polizei) zu mir nach Hause, um meine Aussage aufzunehmen. Später bin ich dann regelmäßig zum psychologischen Arzt gegangen.
Götzl: An welcher Stelle im Laden waren Sie?
K: Hatte mich an Wand gelehnt, direkt am Eingang.
G: Hausnummer?
K: Keupstr. 31, unmittelbar neben dem Friseurladen
K: Fensterscheiben des Ladens sind zu Bruch gegangen.
Die Zeugin beschreibt jetzt auf Deutsch die Entfernung von ihrer Position zu den Fenstern - etwa 80 Zentimeter. Sie spricht deutlich besser deutsch als der Dolmetscher.
G: Druckwelle gespürt?
K: Bisschen
G: Wo befand sich der brennende Mann?
K: Direkt vor der Tür.
G: Was hat gebrannt?
K: Die Beine
(Julian von Löwis of Menar, BR)
G: Wie lange dauerte es bis Sie ohnmächtig wurden?
K: Vielleicht 20 Min
(Tim Aßmann, BR)
G: Gehör beeinträchtigt?
K: Ja.
K (jetzt wieder auf türkisch): Mit der Zeit habe ich festgestellt, dass ich nicht so gut höre, dann zum Arzt, festgestellt, dass ich am rechten Ohr nicht so gut höre.
G: Wann gemerkt?
K: Nach etwa sechs Monaten
K: Benutze Hörgerät
G: Am 9.6. Probleme mit dem Gehör gehabt?
K: Nein
(Julian von Löwis of Menar, BR)
G: Wie haben Sie die Ereignisse verarbeitet?
K: Musste Therapie beginnen und befinde mich in Behandlung. 12 Sitzungen nach Vorfall, dann war mein Anspruch zu Ende. Wollte zu türkischsprachigem Therapeuten, aber da ich arbeitslos war konnte ich mir das nicht leisten. Aber mit Hilfe der Polizei konnte ich weitere Hilfe in Anspruch nehmen.
(Tim Aßmann, BR)
K: Erste Therapie war ungefähr im Oktober 2004, im Jahr 2005 ist es zu Ende gegangen.
G: Und die nächste dann? Wann war das etwa?
K: Also 2011, glaub ich, kam heraus, dass Zusammenhang mit NSU [besteht], in etwa ein bis zwei Monaten hat Polizei für mich Therapiestelle gefunden. Seitdem befinde ich mich in Behandlung.
(Julian von Löwis of Menar, BR)
K: Wir haben ausschließlich über die Vorfälle in der Keupstraße gesprochen. Ich hatte Probleme mich zu konzentrieren und da meine Arbeit das erfordert konnte ich auch nicht mehr arbeiten. Bei Bewerbungsgesprächen habe ich ständig die Fragen an mich vergessen, also war das nicht erfolgreich. Ich habe Konzentrationsprobleme und bin sehr vergesslich und schlafe sehr schlecht.
(Tim Aßmann, BR)
G: Bezieht sich das auf akt. Situation?
K: Einige Bilder erzählen mir wieder meine Erlebnisse in der Keupstr. Da sehe ich in meinen Träumen, diese fürchterlichen Alpträume. Damals und auch jetzt.
(Julian von Löwis of Menar, BR)
G: Gibt es sonstige Beschwerden?
K: Das reicht aus um mein Leben unerträglich zu machen.
(Tim Aßmann, BR)
K: Im Moment wird sehr viel berichtet und das verursacht natürlich das Aufflammen dieser Erinnerungen.
K: In letzter Zeit wird in den Medien sehr viel darüber berichtet und ich stelle eine enorme Verschlechterung fest.
(Julian von Löwis of Menar, BR)
G: Sie hatten gesagt, Sie hatten bei Vorstellungsgesprächen Probleme?
K: Ja, deswegen habe ich keine Arbeit gekriegt
(Tim Aßmann, BR)
K: Zwischen 2005 und 2011 wurde ich vom Arbeitsamt zu einigen Arbeitgebern geschickt. Weil die Konzentrationsschwächen aber andauerten, wurde ich dort nicht übernommen.
(Tim Aßmann, BR)
Westkamp: Gegenstände unmittelbar nach dem Knall wahrgenommen?
K: Irgendwann habe ich irgendeinen schwarzen Gegenstand vor meine Füße fallen oder liegen sehen. Kann ihn nicht beschreiben.
W: Vorhalt aus Vernehmung: "Zeugin erinnert sich dabei an Rad, das durch die Luft flog."
K: Im Moment erinnere ich mich daran nicht.
Zeugin wird kurz darauf entlassen.
Pause
(Tim Aßmann, BR)
Weiter um 11.50 Uhr mit dem Zeugen Fatih K., Bürokaufmann, 29 Jahre alt
K: Ich war mit meiner Mutter dort, sie wollte einkaufen, ich bin zum Friseur. Dort war viel Kundschaft, musste auf der Couch genau am Schaufenster warten, mit dem Rücken zur Straße, waren gefühlte 40 Minuten, dann auf einmal sehr lauter Knall, habe aus Reflex auf Decke geschaut, dachte Gasexplosion, Leute sind aus Reflex auf den Hinterhof gelaufen, war stockdunkel, bin mit, aus dem Fenster raus in den Hinterhof, dann kam Herr mit Papiertüchern, machte Zeichen, dass ich am Kopf blute. Bin dann nach vorne raus. Erster Eindruck: Als ob Krieg ausgebrochen wäre, alles kaputt, Splitter überall, Polizei war schon vor Ort, Sanitäter wollten mich behandeln, hab ich erst nicht zugelassen, weil ich Sorge um meine Mutter hatte, habe sie dann gesehen, bin hin und habe gesagt: Verstehe Dich nicht, höre schlecht. Bin dann zurück zu Sanitätern, Kopfverband, waren dann in Bus drinnen, weiß nicht mehr wie wir ins Krankenhaus kamen. So langsam kam mein Gehör wieder, war dumpfes Geräusch, als wenn man alles dumpf hört. Arzt hat sich um Ohren gekümmert, dann entlassen worden, wurde von Bruder und Mutter abgeholt.
Götzl: Kopfverletzung?
K: Am Hinterkopf.
G: Spätfolgen der Kopfverletzung?
K: Nein. Hauptsächlich mit den Ohren halt, ein paar Tage alles dumpf gehört, nach Antibiotika kam Gehör dann wieder.
G: Gehörminderung behalten?
K: Nein, aber Ohr innen ist verletzt, so dass es immer wieder zu Innenohrentzündung kommt, aber das Gehör so ist nicht beeinträchtigt.
K: Zwei Jahre später war ich nochmal beim HNO wegen der Innenohrentzündung. Da wurde ich mit Cortison behandelt.
G: Psychische Probleme?
K: Am Anfang war es so wie Trance. Habe dann andere Schicksalsschläge erlebt, so dass das im Hinterkopf verschwunden ist. Ab 2011 kam dann wieder die Erinnerung, klar hat sich da auch die Meinung über bestimmte Dinge geändert. War ja 18 damals. Von der Psyche her: Die warme Solidarität hat gefehlt.
G: Irgendwann mal in psychotherapeutischer Behandlung?
K: Nein
G: Wieviel Personen saßen auf der Couch?
K: Weiß nicht genau. Zwei Leute saßen definitiv neben mir. Ein Pärchen.
Greger (Bundesanwaltschaft): Verbrennungen erlitten?
K: Nein, da ich T-Shirt und Hemd anhatte, keine Verbrennungen.
Rechtsanwalt Schön (Anwalt des Zeugen): Erinnerungen an pol. Vernehmung?
K: DNA-Probe genommen. Fragen wurden so gestellt, als ob ich was vom Rotlicht-Milieu kenne, etwas von der PKK weiß, von Drogen, Leute kenne, die mit kriminellem Milieu zusammenhängen, ob ich Kontakt zu denen habe.
Rechtsanwalt Tikbas (Nebenklage Keupstr.): Narben?
K: Mininarbe neben der Nase. Wahrscheinlich durch Scherben entstanden.
Zeuge entlassen. Mittagspause bis 13.05 Uhr.
(Ayca Tolun, WDR)
14.07 Uhr
Nach der Mittagspause:
Der Zeuge Attila Ö., 40, arbeitsunfähig gemeldet
Ö: Ca. 14 Uhr mit Freund zum Friseurladen, gab viel Kundschaft, mussten warten - auf der Couch rechts an der Fensterfront zur Straße, wo das (Bomben-)Fahrrad stand. Dann kam der Knall - alle rannten reflexartig nach hinten. Irgendwann sagte man ihm, er blute stark am Kopf. Er hatte u.a. einen Nagel am Hinterkopf, ein Passant hat ihn darauf aufmerksam gemacht & ihn auch "abgezogen". Irgendwann trauten sie sich auf die Straße, er wurde im Bus (der Feuerwehr) notversorgt, er hatte Platzwunden an der Stirn und am Hinterkopf
Dann kam er ins Krankenhaus und wurde weiterversorgt. Danach wurde er an seinen Hausarzt verwiesen. Derweil hieß es, er müsse zur Keupstr. zurück, die Polizei wolle mit ihnen (ihm und seinem Freund) sprechen. Sie selbst wollten wiederum ihre persönlichen Sachen abholen (Handy, Auto in der Straße).
Sie wurden dann auf die Wache gebracht. Er musste sich bis auf die Unterwäsche ausziehen - wurde so 6 Std. vernommen. Durfte auch nicht telefonieren. Der Zeuge erzählt, dass er so behandelt wurde, als ob er ein Verdächtiger wäre. Er musste Fragen beantworten zum Drogenmilieu, zur PKK, man hat ihm Fotos von Personen gezeigt. Nichts von diesen Fragen und Antworten stand später im Protokoll. Auch die Uhrzeit stimmte nicht. Im Protokoll hieß es, Vernehmung begann um 20.30 Uhr und endete um 21 Uhr, aber er wurde erst gegen Mitternacht entlassen. Als er zuhause war, kam erneut die Polizei und wollte ihn zur Vernehmung abholen. Die Beamten haben sich entschuldigt und sind gegangen als er ihn erklärte, dass er bereits vernommen wurde. Nach dem Polizeibesuch ging's dem Zeugen so schlecht (starke Kopfschmerzen), dass er vom Freund ins Krankenhaus gebracht wurde.
Es wurde eine Gehirnerschütterung festgestellt und man behielt ihn 5 Tage im Krankenhaus. Er hat eine angebotene Therapie abgebrochen, weil er das Gefühl hatte, es hilft nicht. Er hat keine körperlichen Folgen des Anschlags.
Vorher ist der Zeuge Gabelstapler gefahren, wegen späterer Magen-OP ist er nun arbeitsunfähig. Aber auch in der Zwischenzeit war er arbeitsunfähig/-los - auch wegen seelischen Problemen.
Ende der Vernehmung des Zeugen
(Ayca Tolun, WDR)
14.25 Uhr
Es kommt der Zeuge Abdullah Ö., Elektriker. Der Richter bittet um die Schilderung seiner Erinnerungen an den Anschlag , Verletzungen und Folgeschäden.
(Tim Aßmann, BR)
Ö: An dem besagten Tag war ich auf dem Weg in die Keupstraße zum Friseur, habe Freund gebeten mich zu begleiten, wie wir es immer tun. Haben in Keupstr. geparkt, sind zu Fuß in den Laden. War voll, ca. 8 bis 10 Leute. Im Sommer steht man meistens vor dem Laden, saßen diesmal aber trotzdem drinnen, saß dann auf Stuhl, Haare wurden geschnitten, war dann fertig, wollte mir noch Creme drauf tun, bin in die Mitte des Raumes gegangen, war fertig sozusagen, zur Tür begeben, drehte mich nochmal um, habe Tschüss gesagt und in dem Moment hat es richtig geknallt. Bin von Beruf Handwerker, Elektriker, und viele Menschen haben mir berichtet von Gefahr durch Gasleitungen, ich dachte zunächst Gasleitungen im Keller seien explodiert.
Dachte, ich bin jetzt in der Hölle angekommen, hatte wirklich Angst um mein Leben, hat nach Pulver gerochen, Schreie gehört, nach Luft gerungen, man hat uns zum Hinterhof rausgebracht und da haben wir um Luft gekämpft, sind dann nach vorne, Passanten haben mir gesagt ich blute aus dem Hals, hatte Kopfwunde und jede Menge Scherben im Kopf stecken. Alle irrten umher, war Chaos. Man hat uns in den Linienbus gesetzt. Mir kam es vor wie halbe oder Dreiviertelstunde, die haben die Türen zu gemacht, es war heiß in dem Bus. Ich hab dann geschrien, dass jemand die Türen aufmachen soll, wir wollen Luft haben. Ich wurde dann ins Krankenhaus gebracht. Ich wurde am Hals genäht, auch an der Platzwunde hinten am Kopf.
Dort wollte ich keine Vernehmung machen.
Ö: Dann hat man mich ins Präsidium gebracht. Mir wurden Fragen gestellt: Warum ich dahin komme? Hab gesagt, dass das mein Stammfriseur ist. Dann hat man uns vernommen, habe erklärt, was ich da mache, er hat mich gebeten mich auszuziehen, ich sagte: Nein. Für was? Wegen Spuren, hat er gesagt. Musste mich ausziehen bis auf die Unterhose. Dann kam er mit Stäbchen: Müssen Speichelprobe abgeben. Habe gesagt: Nein. Ich bin doch kein Verdächtiger. Ich bin Opfer. Aber für ihn war das normal.
(Ayca Tolun, WDR)
Durfte vorher noch seine Frau anrufen, die ihn dann abgeholt hat.
Zuhause angekommen rief der Freund an und berichtete von Männern, die vor dem Haus standen. Er fuhr hin und die Männer sagten, sie seien vom Staatsschutz. Inzwischen ging es beiden Zeugen nicht gut und sie fuhren ins Krankenhaus. Dort wusste keiner von dem Anschlag. Aber das Krankenhaus stellte zwei Betten in die Notaufnahme und er blieb 5 Tage stationär. Zeuge hatte Ohrenschmerzen - bekam Infusionen für Tinnitus.
(Tim Aßmann, BR)
Ö: Bin zwei, dreimal zum Psychologen gegangen. Ich konnte keine 50 Meter mehr gehen. Hatte solche Schmerzen. Musste mich selber drum kümmern. Mussten den Menschen erstmal erklären, dass wir keine Täter, sondern Opfer sind.
(Ayca Tolun, WDR)
Irgendwann merkte er, er braucht eine Therapie wegen Schlaflosigkeit und Angstzuständen. Die Therapie war zunächst erfolgreich, aber die Therapeutin wechselte den Arbeitsplatz und das bedeutete für den Zeugen, alles von neuem aufrollen zu müssen, was ein Problem wurde. Nach Versuchen mit mehreren anderen Therapeuten nahm er Abstand davon bis 2011. Nachdem der NSU aufflog, hat er weitere Therapien bewilligt bekommen. Jetzt ist er in Therapie und damit zufrieden.
(Tim Aßmann, BR)
G: Ist was Tinnitus angeht mal ne Verbesserung eingetreten?
Ö: Es ist da, aber ich kann es manipulieren, indem ich mich beschäftige.
G: Welche Störungen bestanden?
Ö: Schlafstörungen. Die Zeitungen haben ja extrem viel geschrieben, Leute haben sich von uns abgewendet, meine Tochter hat mir erzählt, dass sie weniger Freunde hat. Das waren schlechte Zeiten.
Ö: Muss nachts Maske tragen, damit ich besser Luft bekomme. Schlafe deswegen schlechter. Es war für mich heute auch sehr schwer aufzutreten und hier auszusagen. Hab auf Bau gearbeitet, bin bei jedem Knall von der Leiter gesprungen. Wenn ich auf Situation nicht vorbereitet bin und es macht jemand Spaß mit mir, bin ich sehr sauer.
(Ayca Tolun, WDR)
Hat einen Kollegen reflexartig geohrfeigt wegen unerwarteter Geräusche, hat sich inzwischen gebessert.
(Tim Aßmann, BR)
Rechtsanwalt Daimagüler (Nebenklage Yasar): Mal erwogen Köln zu verlassen?
Ö: Warum sollte ich das? Köln ist meine Heimatstadt, Deutschland ist mein Heimatland und ich werde weiter hier leben.
(Ayca Tolun, WDR)
Der Zeuge antwortet er "sei ein deutsch-türkischer Kölner, kölsche Jung (Gelächter im Saal) - wo solle er denn hingehen - natürlich nicht"
Zeuge wird entlassen
(Tim Aßmann, BR)
Nächster Zeuge ist Dr. H., Peter, 5.3.1960 geboren, Chirurg, wohnhaft in Hürth bei Köln.
Götzl: Geht uns um Behandlung der Zeugen Attila Ö. und Abdullah Öz. Würde Sie bitten uns die Therapien zu schildern.
Heistermann: Beide waren in stationärer Behandlung im Marienhospital in Köln. Beide waren vorher, am Tag des Anschlags, ambulant in anderem Krankenhaus behandelt worden. Öz. hatte Verletzungen an Schädel und Halswirbelsäule. Ö. hatte Schädelverletzungen. Beide hatten dann Schwindel und kamen am nächsten Tag zu uns. Es wurden keine knöchernen Verletzungsfolgen festgestellt. Beide gaben Hörminderung auf jeweils einem Ohr an. Bei Öz. hatte kurze Bewusstlosigkeit durch den Anschlag vorgelegen, sodass von Gehirnerschütterung auszugehen war. Beide Patienten bekamen Blutungshemmer. Beide verließen am 15.6. die stationäre Behandlung mit leichten Restbeschwerden.
Zeuge entlassen. Pause bis 14.45 Uhr
(Julian von Löwis of Menar, BR)
Weiter um 14.54 Uhr, mit dem Zeugen Tamer A., 42 Jahre, Kaufmann aus Köln.
G: Es geht um 9.6.2004, ich bitte Sie von sich aus das darzustellen.
(Ayca Tolun, WDR)
Anders als die vorherigen Zeugen antwortet der Zeuge kurz, knapp und sehr zurückgenommen.
Julian von Löwis of Menar, BR)
S: Ich bin an dem Tag in die Keupstraße, wollte zum Friseur, mir die Haare schneiden lassen, da war viel los, habe zwei Bekannte getroffen und wir haben uns unterhalten. Nach einer halben Stunde gab es ein Riesenknall und es hat mich vom Stuhl gerissen. Die Leute haben alle geschrien, am linken Arm war ich an der Arterie verletzt und blutete sehr stark, draußen haben mir zwei Frauen geholfen und ein Stück Stoff um den Arm gebunden. Später eintreffende Sanitäter brachten mich ins Krankenhaus. Dort wurde ich genäht, meine Frau hat mich dann abgeholt. Ein paar Tage später musste ich zur Polizei, ich habe Fingerabdrücke und DNA abgegeben und machte eine Aussage.
Ich hatte Schnittverletzungen am linken Arm, an der Brust und an der Schulter.
Hatte Probleme mit dem rechten Ohr, das hat sich aber wieder gelegt.
Schlafstörung seit 2011, war auch beim Psychiater das hat aber nichts gebracht.
G: Neben dem Knall, welche Wahrnehmungen?
S: Es gab eine riesen Druckwelle
G: Wo waren Sie im Laden?
S: Auf einem Stuhl wenn man rein kommt links, die Tür war rechts von mir.
G: Kam es bei Ihnen zu Verbrennungen?
S: Nein, mein T-Shirt war kaputt.
G: Haben Sie auf dem Weg zum Friseur Beobachtungen gemacht, ein Fahrrad gesehen?
S: Nein, habe nicht darauf geachtet
Rechtsanwalt Reinecke (Nebenklage Keupstr.): Was gab es hinsichtlich der Täterfrage?
S: Ich wurde gefragt, ob ich Feinde hätte, vielleicht PKK oder Drogen.
Zeuge wird entlassen.
(Ayca Tolun, WDR)
Es kommt Hasan Y., 40, Friseur. Er ist der Bruder und Angestellte von Özcan Y., vor dessen Laden die Bombe hochging.
Der Richter bittet um Schilderung seiner Erinnerungen, Verletzungen und Folgeschäden
(Julian von Löwis of Menar, BR)
G: Es geht uns um die Ereignisse von 9.6.2004.
Y: Für uns war dieser Tag ein normaler Tag. Da der darauffolgende Tag ein Feiertag war, hatten wir mehr Kunden als sonst. Gegen 15.00 / 15.30 Uhr habe ich einen Kunden fertig bedient und wollte dann den nächsten dran nehmen.
Eine Person, etwa 1,80 groß mit einer Baseball-Kappe hat sein Fahrrad vor dem Laden abgestellt. Ich dachte er ist ein normaler Kunde. Etwa eine Sekunde haben wir uns gegenseitig angeblickt. Richtung Garten haben wir eine kleine Kochnische, um heißes Wasser zu holen, ich habe das heiße Wasser aufgefüllt, als ich mich umdrehte habe ich eine Druckwelle gespürt. Durch den Knall, den Druck, ist die Fensterschreibe zerbrochen und der Rahmen ist auf mich herunter gefallen, ich habe stark geblutet, dann kamen viele Leute auf mich zu - ich dachte, sie wollten mir helfen. Ich habe gehört, dass viele Leute schreien und wir sind in den Garten gesprungen.
Überall blutete ich. Ich war verzweifelt. Wie sollte ich das Blut stillen? Am Kopf hatte ich Platzwunden und Schnitte an den Armen. Jeder hat sich selbst geholfen. Ich habe mein Hemd ausgezogen und über den Kopf gezogen, danach habe ich mit dem Gartenschlauch meine Wunden gewaschen. Dann sind einige Leute in den Laden gekommen, um uns zu helfen. Ich habe im Laden das Telefon genommen, um meine Frau und meinen Bruder anzurufen. Draußen habe ich gemerkt, dass sich das eigentliche Chaos dort abgespielt hat. Das war wie in einer Kriegsszene aus dem Fernsehen mit sehr vielen Verletzten und Trümmern auf dem Boden. Dann kamen Sanitäter mit Verbandsmaterial. Ich wurde dann verbunden, aber der Verband war so fest, dass es am Arm weh getan hat.
(Julian von Löwis of Menar, BR)
Y: Es waren in der Zwischenzeit etliche Krankenwagen eingetroffen und wir wurden versorgt. Es gab dort einen Schwerverletzten, ein Helikopter holte ihn ab. Ich ging in den Bus und später sind wir ins Krankenhaus.
Ich hatte unvorstellbare Schmerzen. Einige Schnittwunden wurden genäht, einige waren sehr tief, so dass die Glassplitter herausoperiert werden mussten. Nach der Operation wurde ich in einen Raum weiter oben gebracht. Den eigentlichen Schock habe ich da erst erlebt, ein anderer Betroffener lag in diesem Zimmer und hatte den Fernseher an, dort lief etwas über den Anschlag mit Untertitel und da hieß es: Eine auf einem Fahrrad vor einem Friseurladen abgestellte Bombe war explodiert, da habe ich einen Schock erlitten.
(Tim Aßmann, BR)
Y: Nach einigen Stunden ist ein Polizist gekommen. Ich habe ihm gesagt, dass ich der dt. Sprache nicht mächtig bin. Er hat gesagt, das mache nichts, ich solle erzählen, soweit es mir möglich sei. Ich habe gesagt, Person war etwa 1,80 Meter groß, hatte Baseballkappe auf. Mir waren seine Koteletten aufgefallen. Polizist hat gesagt: Kann er denn nicht etwas dunkelhäutiger sein? Ich habe gesagt: Ich versuche Ihnen die Person zu beschreiben. Was denken Sie denn?
Die Vernehmungen der Polizei waren nicht in der Art, als würden wir als Zeugen vernommen werden, sondern als Verdächtige. Das war für uns eine zweite Verletzung. Es wurde so hingestellt, als hätten wir die Bombe selber gelegt um Versicherungsbetrug zu begehen. Zum Glück hatten wir gar keine Versicherung abgeschlossen. Mein Bruder wurde unter Druck gesetzt. Ich wurde unter Druck gesetzt. Ich musste nochmal zur Polizei. Dann wurde mir vorgehalten: Du hast LCD-Fernseher und Laptop. Als wenn kein Mensch LCD-Fernseher und Laptop hätte. Wir wurden geholt und es wurde jedes Mal gesagt, sie hätten nur ein paar Fragen. Dann wurden wir jedes Mal drei, vier Stunden befragt. Im Moment habe ich nicht mehr dazu zu sagen.
Die Bombe war wohl unmittelbar am Eingang des Ladens deponiert. Dürfte so acht bis zehn Meter von mir entfernt gewesen sein.
(Julian von Löwis of Menar, BR)
G: Zu Ihren Verletzungen?
Y: Ich hatte mehrere Wunden, am Arm wurde ich genäht. Starke psychische Belastung
G: Zur Person, die Sie gesehen haben, wie alt?
Y: Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube so um die 30
G: Kleidung?
Y: Ich habe seinen Kopf und seine Kotletten gesehen, er hatte eine Kappe auf
G: Lichtbilder gezeigt?
Y: Ja, anfangs wurde mir gesagt, dass eine Person festgenommen worden sei. Sie haben mich hinter ein Glas geführt. Es waren 9 Personen aufgeführt. Ich habe daraus zwar keine Person festmachen können, aber ich habe gesagt, an den Augen könnte ich einen erkennen.
G: Es geht mir um eine bestimmte Vernehmung am 4.7.2004. Da geht es um Person und Beschreibung, "Baseballkappe vorne gekrümmt", welche Farbe?
Y: Kann sein, dass ich schwarz gesagt habe.
G: Worum es mir geht, um die Frage nach der Nationalität und da heißt es: "dem Zeugen wurden Bilder gezeigt"
Y: Ja, es hieß, dass sie ein Fahndungsfoto zeichnen wollen, die zeigten mir Bilder anhand derer sie ein Phantombild zeichnen wollten
G: Was waren das für Bilder?
Y: Lichtbilder von irgendwelchen Leuten oder von zusammengestellten Fahndungsfotos.
G: Vorhalt: "Ich bin zu 99% sicher, dass es die Person war, die das Fahrrad abgestellt hat"
Y: Nein, ich erinnere mich nicht so etwas gesagt zu haben. Damals gab es einen Dolmetscher, aber so etwas habe ich nicht gesagt.
G: Wieviel Zeit ist vergangen zwischen der Beobachtung der Person und dem Knall?
Y: Ich bin mir nicht sicher, ein zwei Minuten vielleicht.
G: im Protokoll steht: "Das waren zwischen 5 bis 10 Minuten"
Y: Definitiv konnte ich das nicht sagen.
G: Wie sah das Fahrrad aus?
Y: Ich kann das nicht sagen
G: Vorhalt: "Ich schaute raus, da ich auf meinen Freund mit dem Auto wartete"
Y: Einen Tag zuvor war mein Wagen defekt, ich hatte am vorausgehenden Abend meinen Wagen bei jemandem, der Autoschlosser ist, gelassen, etwa 10 Minuten vor der Detonation hat er mich angerufen, dass er mir mein Auto vorbeibringen würde, deswegen habe ich immer nach draußen geguckt.
G: Zur beobachten Person, da heißt es: "Am hinteren Teil des Fahrrades hat er sich gebückt"
Y: Ja, in dem Sinne als würde er sein Fahrrad anschließen
G: Wenn wir nochmal zu dem Mann kommen, hat er noch etwas bei sich geführt?
Y: Das ist alles, was ich gesehen habe
G: Nochmal Vorhalt aus früherer Vernehmung, 10.6.2004: "Mir ist noch bekannt, dass der Mann einen Rucksack auf dem Rücken trug"
Y: Ich erinnere mich wirklich nicht an so etwas.
G: Sie haben uns geschildert welche psychischen Beschwerden Sie hatten, wie ging es weiter?
(Tim Aßmann, BR)
Y: Das Vortragen fügt mir große Schmerzen zu. Ich habe große Schwierigkeiten das Erlebte vorzutragen. Nachdem 2011 herauskam, wer verantwortlich war, habe ich mich teilweise rehabilitiert gefühlt, denn es waren teilweise damals erhebliche Vorwürfe gegen uns erhoben worden. Wir waren ziemlich verzweifelt. Auch gegenüber unseren Freunden hatten wir diese Schwierigkeiten. Es ist auch jetzt für mich unheimlich schwierig hier zu sein. Ich befinde mich in einer unheimlich schlechten psychischen Lage gerade. Ich habe letzte Nacht nur drei Stunden geschlafen.
Da die Therapien mit Hilfe eines Dolmetschers ablaufen, geschieht das nicht eins zu eins, deshalb habe ich das nicht mehr wahrgenommen.
(Julian von Löwis of Menar, BR)
G: Sind Ihre Verletzungen folgenlos verheilt?
Y: Die Verletzungen am Kopf und an den Händen sind ausgeheilt, aber am Oberarm habe ich immer noch Schmerzen, wenn ich arbeite. Weil ich Friseur bin, erleide ich immer ab einer gewissen Zeit Schmerzen.
Y: Sie haben versucht den Bombenanschlag über uns aufzuklären. Als ich fragte, ob es irgendwelche Ergebnisse gebe, sagten sie, es ist viel raus gekommen, mit einigen Wörtern, die du uns sagen würdest, wäre die Sache schnell aufgeklärt. Ich sollte ihnen sagen, wer die Bombe deponiert hat und der Deutsche Staat würde mir ein neues Geschäft und eine neue Lebensgrundlage geben.
Ich sagte, ja ok dann gebe ich Ihnen halt einen Namen eines von mir nicht gemochten Menschen, aber im Ernst: was ist denn das für eine Logik? Sie haben versucht die Familienmitglieder mit ihren Fragen gegeneinander auszuspielen.
Mein älterer Bruder, der Ladenbesitzer, wurde nicht als Zeuge hierher geladen (stimmt nicht ganz. Er wurde ursprünglich nicht geladen, ist es aber mittlerweile). Ein Privatdetektiv kam eines Tages in den Laden und sagte, er kenne den Namen des Mannes, der die Bombe abgestellt hat. Da waren wir sehr aufgeregt, dass ein Deutscher aufgetaucht ist, der sagt, dass er den Mann kennt. Mein Bruder hat den Mann mit zur Polizei genommen, aber seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört.
(Tim Aßmann, BR)
Rechtsanwältin Pinar (Nebenklage Tasköprü): Ist ihnen irgendwann mal ein Video gezeigt worden?
Y: Ja.
P: Was war da zu sehen?
Y: War Video von Viva-Überwachungskamera (der Sender hatte seinen Sitz damals in der Gegend). Person führte gerade ein Fahrrad. Das war zu sehen.
P: Entsprach die Person der Person, die sie vor dem Friseurladen gesehen haben?
Y: Es war ja keine klare Aufnahme. Wenn es das gewesen wäre, hätte der deutsche Staat diesen Täter mit Sicherheit bis dahin festgenommen. Die Größe und das Käppi entsprachen dieser Person.
Rechtsanwalt Kuhn (Nebenklage Keupstr.): Welche Folgen für den Laden?
Y: Haben wirtschaftlich unheimlich schwierige Jahre erlebt. Der Laden musste irgendwie wieder auf die Beine gestellt werden, damit wir davon auch etwas essen können (der Laden gehört seinem älteren Bruder). Obwohl wir eines der Hauptziele dieses Anschlags gewesen sind, haben wir vom deutschen Staat keine Hilfe bekommen. Wenn keine Leute mehr in die Keupstr. kommen, können die Läden dort natürlich auch nichts verdienen.
K: Observation gegen Sie?
Y: Nach dem Anschlag wurden wir ein, zwei Monate beobachtet. Das wussten wir auch. Vor unseren Häusern saßen irgendwelche Personen in irgendwelchen Autos. Hatten wohl so einen starken Verdacht gegen uns, dass sie uns ein, zwei Monate verfolgt haben.
K: Vorhalt: "Auch noch Observation 2006 angeordnet." - Haben Sie auch Kenntnis davon?
Y: Von so etwas hatte ich keine Kenntnis. Im Gegenteil. Ich hatte mich an die Polizei gewendet und gebeten mir Personenschutz zu gewähren.
Zeuge entlassen
Erklärung Rechtsanwalt Schön (Nebenklage Keupstr.) zu den Zeugenbefragungen (unvorbereitet, frei und stammelnd vorgetragen, in der Folge sinngemäß zusammen gefasst): Nach jetzigem Kenntnisstand ist blindwütige Aktivität des Nagelbombenanschlags, gerichtet auf die Menschen in der Keupstr., sehr offensichtlich geworden. Glücksfall, dass keine Todesopfer zu beklagen sind. Klar geworden, wer dahinter steckt. Wenn man sich mehr bemüht hätte, herauszufinden woher diese Nagelbombenkonstruktion kam, hätte man eine Menge vorher verhindern können. Dann hätte man Schlimmeres verhindern können.
Schluss für heute
Hinweis
Diese Texte sind eine Auswahl der Mitschriften der Reporter der ARD und des BR während der zentralen Verhandlungstage im sogenannten "NSU-Prozess", eines beispiellosen Verfahrens der deutschen Rechtsgeschichte. Wir dokumentieren diesen "Originalton", weil es in der deutschen Praxis des Strafprozessrechts, selbst bei derartig wichtigen Verfahren, kein offizielles und umfassendes Gerichtsprotokoll gibt. Wir erfüllen damit unsere Informationspflicht, um allen, die keinen der begehrten Sitzplätze im Gerichtssaal erhalten haben, einen - durchaus auch subjektiven - Eindruck der Prozessereignisse zu vermitteln. Die Zusammenfassungen der sogenannten "Saalinfos" unserer Reporter sind redaktionell bearbeitet, zum Teil gekürzt. Es wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben und es kann natürlich auch keine Gewähr für die Richtigkeit jedes einzelnen Wortes gegeben werden. Die Redaktion distanziert sich ausdrücklich von den Inhalten der Aussagen der Prozessteilnehmer.