383. Verhandlungstag, 4.10.2017 Verteidiger diktieren Prozessfortgang
Mit einer Serie von Befangenheitsanträgen haben die Verteidiger von Ralf Wohlleben und Andre E. den bereits verschobenen Beginn der Nebenklage-Plädoyers erneut verhindert. Das Gericht strich daraufhin die nächsten vier Verhandlungstage und will den Prozess erst am 24. Oktober fortsetzen.
04. Oktober
Mittwoch, 04. Oktober 2017
Was ist das gute Recht eines Angeklagten und wann beginnt er dieses Recht zu missbrauchen? Diese Frage ist am heutigen 383. Verhandlungstag des NSU-Prozesses erneut akut geworden. Denn im Stundentakt waren immer neue Befangenheitsanträge gegen das Gericht eingegangen. Den ersten stellte Michael Kaiser, Verteidiger von André E., um 8.30 Uhr - per Fax. Um 10.00 Uhr, während einer ersten kurzen Unterbrechung deswegen, legten Kaiser und Olaf Klemke, der Verteidiger von Wohlleben, nach - und stellten jeweils einen weiteren Ablehnungsantrag wegen Besorgnis der Befangenheit. Da aber bekanntlich alle guten Dinge drei sind, schoben beide Verteidiger um gegen 10.40 Uhr jeweils noch einen Antrag nach. Und als ob das nicht reichen würde, kündigten Kaiser und Klemke an, am Donnerstagmorgen einen weiteren Antrag zu stellen. Macht also sieben Befangenheitsanträge innerhalb von 24 Stunden.
Warum das Gericht gegen die Anträge wenig machen kann
Im Ergebnis bedeutet dies, dass der Prozess frühestens in drei Wochen fortgesetzt werden kann. Der Münchner Staatsschutzsenat kann gegen diese Verzögerung aber nichts unternehmen. Denn es ist gesetzlich genau festgelegt, dass die abgelehnten Richter zunächst dienstliche Stellungsnahmen zu den in den Anträgen erhobenen Vorwürfen abgeben müssen. Diese Stellungnahmen müssen allen Prozessbeteiligten zugänglich gemacht werden. Erst frühestens dann kann ein anderer Senat am Oberlandesgericht über die Anträge entscheiden - und das braucht eben seine Zeit.
Wollen die Verteidiger den Prozess damit verschleppen?
Dass tatsächlich ein oder gar mehrere Richter wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden, kann nach dem bisherigen Verlauf des NSU-Prozesses niemand ernstlich erwarten - wahrscheinlich selbst die Verteidiger nicht, die die Anträge stellen. Was also ist ihr Kalkül? Vermutlich setzen sie darauf, dass das Gericht in der Behandlung der Anträge einen Fehler begeht, der in letzter Konsequenz den ganzen Prozess platzen lassen könnte. Und das ist theoretisch durchaus möglich. Denn in der Strafprozessordnung ist auch festgelegt, dass eine Hauptverhandlung nicht länger als drei Wochen unterbrochen werden darf. Und an diese Frist war man heute schon gefährlich nahe gekommen. Denn auch letzte, vorletzte, und vorverletzte Woche hatte der Vorsitzende Richter Manfred Götzl wegen Befangenheitsanträgen mehrere Verhandlungstage absetzen müssen. Durch einen juristischen Kunstgriff hat er heute die drohende Unterbrechung von mehr als drei Wochen abgewendet. Götzl erteilte nämlich mehrere rechtliche Hinweise an die Angeklagten. Und trat damit, ohne es überhaupt zu erwähnen, wieder in die Beweisaufnahme ein. Diese darf trotz nicht entschiedener Befangenheitsanträge fortgesetzt werden, während die Plädoyers nur dann gehalten werden dürfen, wenn über alle Befangenheitsanträge entschieden ist. Nachdem durch den kurzen Eintritt in die Beweisaufnahme heute wieder weiterverhandelt wurde, ist das Platzen des Prozesses durch eine unzulässig lange Pause fürs erste abgewendet.
Wie geht es jetzt weiter?
Aber man braucht kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass es die Verteidiger mit neuen Anträgen wieder probieren werden, den Prozess länger als drei Wochen zu unterbrechen. Denn aus ihrer Sicht ist es wohl die letzte Möglichkeit, die drohende Verurteilung ihrer Mandanten zu langen Haftstrafen abzuwenden. Dies den Verteidigern nachzuweisen und ihrer Anträge von vorneherein deswegen als "rechtsmissbräuchlich" abzulehnen, ist aber praktisch unmöglich. Denn solange die Gesuche auch nur einigermaßen plausibel begründet sind, muss sich die Justiz inhaltlich damit auseinandersetzen. Es ist also gut möglich, dass dieses juristische Pingpong mit Befangenheitsanträgen noch monatelang weitergehen und damit den NSU-Prozess in die Länge ziehen wird.
Der Gesetzgeber muss handeln
Im Endeffekt können also die Verteidiger maßgeblichen Einfluss auf die Schlussphase dieses Prozesses ausüben. Für die Angehörigen der Opfer und ihre Anwälte ist das frustrierend. Ursprünglich wollten mehrere Familien selbst das Wort im Gerichtssaal ergreifen. Weil es aber inzwischen unkalkulierbar geworden ist, wann die Schlussvorträge der Nebenklage tatsächlich beginnen können, haben etliche Angehörige der Opfer diesen Plan wieder aufgegeben. Dass nicht das Gericht, sondern die Verteidigung zunehmend den Zeitplan diktiert, ist aber auch aus einem weiteren Grund höchst problematisch. Die breite Öffentlichkeit versteht schon längst nicht mehr, warum der NSU-Prozess so lange dauert. Kommt es jetzt zu weiteren Verzögerungen aufgrund von immer neu gestellten Befangenheitsanträgen, wird die ohnehin verbreitete Skepsis gegenüber dem Rechtsstaat zunehmen. Der Münchner Staatsschutzsenat kann dagegen nichts machen, ihm sind durch die Strafprozessordnung die Hände gebunden. Ändern kann sie nur der Gesetzgeber. Und nach dem heutigen Verhandlungstag steht für mich persönlich fest: Der Gesetzgeber muss sie dringend ändern.