NSU-Prozess


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403. Verhandlungstag, 10.1.2018 Wie eine Opferfamilie den Boden unter den Füßen verlor

Abdulkerim Şimşek schildert die Folgen der Ermordung seines Vaters. Die Anwältin der Familie liefert in ihrem Plädoyer Hinweise auf lokale Unterstützer in Nürnberg - und fordert weitere Ermittlungen.

Von: Verhandlungstag – Reporter-Tagebuch

Stand: 10.01.2018 | Archiv

Ina Krauß | Bild: BR/Julia Müller

10 Januar

Mittwoch, 10. Januar 2018

Eigentlich muss Abdulkerim Şimşek nicht viel sagen, um zu beschreiben, wie es ihm geht. Man muss nur sein Gesicht sehen, wie er im schwarzen Anzug neben der Anwältin der Familie sitzt; die Stirn in tiefen Falten, die Augenbrauen zusammengezogen - der Schmerz steht ihm ins Gesicht geschrieben.

Şimşek schildert in seinem Schlusswort, wie er als 13-jähriger Schüler in ein Nürnberger Krankenhaus gerufen wurde, wie er dort auf seine weinende Mutter traf und schließlich auf den im Sterben liegenden Vater. Acht Schüsse hatten den 38-jährigen am 9.9.2000 an seinem Blumenstand in Nürnberg getroffen. Sein Sohn erinnert sich, wie er auf der Intensivstation in das Gesicht des Vaters blickte und drei blutende Löcher zählte und weitere in seiner Brust. Der Vater starb zwei Tage nach der Tat an seinen Verletzungen.

Falsche Verdächtigungen

Abdulkerim schildert, wie nach der Ermordung die Familie den Boden unter den Füßen verlor. Seine Mutter erkrankte an einer Depression, das Geld war knapp, die falschen Verdächtigungen der Polizei bedeuteten für die Familie die gesellschaftliche Isolation. So war er schließlich erleichtert, als sich 2011 endlich herausstellte, dass Neonazis seinen Vater ermordet hatten und damit wenigstens dessen Unschuld bewiesen war. Es falle ihm bis heute schwer, seine Gefühle zu zeigen.

Bewegendes Schlusswort

Man muss nur die Stimme von Abdulkerim Simsek hören, um einen kleinen Eindruck davon zu bekommen, wie ihn das Geschehen von damals  bis heute mitnimmt – und wie er sich beherrschen muss, um seine Trauer und seine Wut unter Kontrolle zu halten. Seine Worte lösen auf der Zuschauerbank Tränen aus.

"Wie krank ist es, einen Menschen nur aufgrund seiner Herkunft oder Hautfarbe mit acht Schüssen zu töten. Was hat mein Vater Ihnen getan? Können Sie überhaupt verstehen, was es für uns heißt, dass er nur deswegen ermordet wurde, weil er ein Türke ist. Können Sie verstehen, was es für uns heißt, im Bekennervideo den Vater blutend auf dem Boden zu sehen und zu wissen, dass er dort stundenlang hilflos lag?"

Höchststrafe für die Schuldigen

Abdulkerim Simsek wendet seinen Blick während seines Schlusswortes ausschließlich an das Gericht, nicht an die Angeklagten. Nur Carsten S. spricht er direkt an. Er sei der einzige, der durch seine umfassenden Angaben zur Aufklärung beigetragen habe. "Herr S., wir nehmen ihre Entschuldigung an", sagt er und ergänzt: "Ich möchte, dass alle anderen, die an der Ermordung meines Vaters Schuld sind, zur Verantwortung gezogen und in höchstem Maße bestraft werden."

Doch nach Ansicht von Abdulkerim Simsek und der Anwältin der Familie sitzen nicht alle Schuldigen  auf der Anklagebank im Saal A 101 des Münchner Oberlandesgerichts. Rechtsanwältin Seda Basay führte in ihrem Plädoyer aus, warum es höchst wahrscheinlich ist, dass der NSU Helfer in Nürnberg hatte.

Wer half dem NSU?

Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die die Morde an Enver Simsek und neun weiteren Opfern ausführten, können nach Ansicht von Basay niemals alleine sämtliche Tatorte ausgespäht haben.

In einer Vernehmung im Jahr 2012 habe der fränkische Neonazi Christian W., zugegeben, den Blumenstand von Enver S. gekannt zu haben. "Weitere Ermittlungen gegen ihn sind nicht bekannt," stellt Seda Basay fest. Dabei war W. mit der rechtsradikalen Mandy S. liiert, gegen die im Zusammenhang mit dem NSU ermittelt wird.

Weitere Ermittlungen gefordert

Im Fall des 2005 in Nürnberg ermordeten Ismail Yaşar fand sogar vor dessen Ermordung eine Auseinandersetzung an dessen Imbissstand statt, die zu der Verurteilung eines Neonazis führte. Dieser Jürgen F. nahm 1995 an einer Skinhead-Veranstaltung teil, bei der auch zwei der Angeklagten sowie Uwe Mundlos anwesend waren.

"Weil für die Familie immer noch die Frage offen ist, wer den Hinweis auf den Blumenstand von Enver Şimşek gegeben hat, dürfen die Ermittlungen dazu nicht in diesem Verfahren beendet werden. Es muss weiter ermittelt werden," sagt Seda Basay in ihrem Plädoyer und hofft, dass das Gericht diesen Hinweisen doch noch nachgeht.

Kurzer Verhandlungstag

Nach den Plädoyers der Familie Simsek musste die Hauptverhandlung bereits am Mittag unterbrochen werden, weil der Angeklagte Ralf Wohlleben weiter über Rückenprobleme klagt. Am frühen Nachmittag sollte er in der JVA Stadelheim ärztlich untersucht werden.


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