430. Verhandlungstag, 7.6.2018 NSU-Prozess: Zschäpe-Verteidiger erhebt schwere Vorwürfe
Im dritten Teil seines Schlussvortrages hat Zschäpe-Verteidiger Wolfgang Heer den Ermittlungsbehörden vorgeworfen, die Grundsätze des fairen Verfahrens missachtet zu haben. Seine Mandantin sei dadurch wesentlich in ihren Verteidigungsrechten eingeschränkt worden. Die Hauptanklagepunkte spricht er bislang gar nicht an.
07. Juni
Donnerstag, 07. Juni 2018
Die Staatsanwaltschaft hat in einem Strafverfahren nicht nur nach belastenden Beweisen zu suchen, sie muss auch allen Spuren nachgehen, die einen Beschuldigten entlasten. Nach Überzeugung von Wolfgang Heer, einem der drei sogenannten Altverteidiger von Beate Zschäpe, ist die Behörde bei den Ermittlungen zur Brandstiftung in der Zwickauer Frühlingsstraße dieser Pflicht nicht nachgekommen. Denn obwohl zwei Anwälte der Hauptangeklagten im NSU-Prozess mehrfach die zeitnahe Vernehmung einer möglichen Entlastungszeugin beantragten, erfolgte die erst nach über zwei Jahren. Was in diesem Fall weitreichende Konsequenzen hatte.
Mögliche Entlastungszeugin wurde zu spät vernommen
Bei der Zeugin handelte es sich um Charlotte E., die alte Frau, die sich im Nachbarhaus aufhielt, als Beate Zschäpe am 4.11. 2011 die letzte Wohnung der untergetauchten mutmaßlichen Rechtsterroristen in Brand steckte. Die Bundesanwaltschaft wirft Zschäpe deshalb versuchten Mord vor, sie selbst aber hat laut Zeugenaussagen von Anfang an erklärt, sie habe die alte Frau warnen wollen. Deshalb habe sie vor der Inbrandsetzung bei ihr geklingelt. Da E. aber auch nach mehrfachem Klopfen nicht geöffnet habe, ist Zschäpe nach eigenen Worten davon ausgegangen, ihre Nachbarin sei nicht zuhause. In diesem Fall könnte man ihr dann keinen versuchten Mord vorwerfen.
Auch Polizist regte Vernehmung an
Trotz ihres fortgeschrittenen Alters von fast 90 Jahren war Charlotte E. im November 2011 zwar etwas gebrechlich, aber "geistig noch recht fit". Diesen Eindruck hatte auch ein örtlicher Polizeibeamter, der die Frau wenige Tage nach der Brandlegung vernahm. In seinem Protokoll vermerkt er damals handschriftlich: "Ich gehe davon aus, dass Zschäpe bei E. geklingelt hat. Deshalb sollte E. als Entlastungszeugin vernommen werden.“ Doch weder das Bundeskriminalamt noch die Generalbundesanwaltschaft, so kommentiert es Heer heute mit einer gewissen Bitternis, hätten diesen "bedeutenden Ermittlungsansatz" berücksichtigt. Obwohl er in einem eigenen Antrag darauf hinwies, dass wegen des "fortgeschrittenen Alters und des Gesundheitszustandes ein Beweismittelverlust" drohe.
Kritik auch am Oberlandesgericht
Diese Kritik richtet der Verteidiger nicht nur an die Ermittlungsbehörden, sondern auch an das Münchner Oberlandesgericht. Dieses habe ebenfalls versäumt, die Entlastungszeugin zeitnah und ebentuell noch vor Beginn der Hauptverhandlung zu vernehmen. Bis Mitte 2012 wäre dies problemlos möglich gewesen. Erst danach verschlechtert sich ihr Gesundheitszustand. Eine Ladung in den NSU-Prozess nach München war nicht mehr möglich. Statt zu einer richterliche Vernehmung ins Pflegeheim in Zwickau zu reisen, setzt der Senat "wohl aus Bequemlichkeit", wie Heer anmerkt, auf eine Videovernehmung. Doch die 91jährige, die inzwischen zudem an einer Demenzerkrankung leidet, ist im Dezember 2013 mit der Situation völlig überfordert. Sie kann einfachste Fragen nicht mehr beantworten. Das Gericht muss die Vernehmung per Videoschaltung nach wenigen Minuten abbrechen. "Insgesamt agierte die Justiz unvertretbar zögerlich. Die verfahrensrechtliche Stellung von Zschäpe und ihre Verteigungsmöglichkeit wurden dadurch irreparabel geschädigt," fasst Wolfgang Heer die Konsequenzen für seine Mandantin zusammen.
Kein versuchter Mord
Im Anschluss daran legt er in aller Ausführlichkeit dar, warum aus seiner Sicht auch der Vorwurf der Bundesanwaltschaft nicht zutrifft, Zschäpe habe mit der Brandlegung das Leben zweier im Haus arbeitender Handwerker gefährdet, was die Ermittler ebenfalls als versuchten Mord anklagen. Während sie es nur einem glücklichen Zufall zuschreiben, dass die beiden zum fraglichen Zeitpunkt nicht im Haus waren, versichert Heer, dass Zschäpe dies genau gewusst habe. So habe sie gesehen, dass das Auto der beiden Männer nicht mehr vor dem Gebäude in der Zwickauer Frühlingsstraße geparkt war. Und im Haus sei es absolut still gewesen. Wenn die Handwerker gearbeitet haben, sei dies immer mit großem Lärm verbunden gewesen.
Nur einfache Brandstiftung
Mit seinem Schlussvortrag ist Heer damit noch lange nicht am Ende. Im letzten Teil legt er ausführlich da, warum sich Zschäpe nur der einfachen und nicht - wie angeklagt - der schweren Brandstiftung schuldig gemacht hat. Nachdem er schon gestern einen Beweisantrag zur baulichen Situation gestellt hat, schiebt er heute noch einen Hilfsbeweisantrag nach. Die möchte Richter Manfred Götzl zum Schluss des Verhandlungstages gerne schriftlich haben. Heer hatte das gestern auch noch so zugesagt, heute hat er es sich anders überlegt. Er werde seine Anträge erst überreichen, wenn seine Kollegen Wolfgang Stahl und Anja Sturm ihre Teile des "gemeinsamen Plädoyers" vorgetragen haben. Auf Nachfrage erklären Stahl und Sturm, dass sie zwei, wahrscheinlich aber eher drei Prozesstage brauchen.
Was kommt zu den Hauptanklagepunkten?
Das letzte Plädoyer im NSU-Prozess dauert also länger als ursprünglich angekündigt. Aus drei sind sechs Verhandlungstage geworden. In der nächsten Woche werden die drei sogenannten Altverteidiger vermutlich auf das zu sprechen kommen, was nach Ansicht vieler Beobachter bislang noch völlig fehlt: Wie wollen sie die schwerwiegendsten Anklagepunkte entkräften, die Mittäterschaft bei den zehn Morden des NSU und bei zwei Sprengstoffanschlägen mit vielen Schwerverletzten. Denn schließlich geht es in diesem Prozess nicht nur um die Frage einfache oder schwere Brandstiftung.