NSU-Prozess, 411. Verhandlungstag Ein Urteil wird langsam absehbar
Nach fast fünf Jahren scheint das Ende des NSU-Prozesses absehbar. Die Plädoyers der Nebenklage wurden heute abgeschlossen. Als nächstes stehen die Schlussvorträge der Verteidiger auf dem Programm.
Seit Anfang November plädieren die Nebenkläger im NSU-Prozess. Zum Abschluss meldete sich heute Serkan Alkan zu Wort, der einen Betroffenen des Nagelbombenanschlags in der Kölner Keupstraße vertritt, außerdem Yavuz Narin, Anwalt der Familie des siebten NSU-Mordopfers Theodoros Boulgarides. Beide kritisierten einmal mehr den institutionellen Rassismus der Ermittlungsbehörden, die jahrelang keinerlei Hinweise auf rechtsextreme Täter erkennen wollten, sowie den, ihrer Meinung nach, mangelnden Aufklärungswillen der Bundesanwaltschaft und der Verfassungsschutzbehörden.
Angeklagte und Zeugen: Feiglinge und selbsternannte Opfer
Serkan Alkan ging auch mit den Angeklagten und den zahlreichen Zeugen aus der Neonaziszene, die im Prozess gehört worden waren, hart ins Gericht. Sie seien nicht einmal in der Lage, zu ihren Taten und ihrer Ideologie zu stehen.
"Stark sind sie nur in der Gruppe. Wenn sie allein sind, zeigt sich ihr feiges Verhalten. Plötzlich hat man nichts gegen Ausländer, und man bekommt fast den Eindruck, es mit Sozialarbeitern oder Naturschützern zu tun zu haben."
Serkan Alkan
Ähnlich äußerte sich auch Nebenklage-Anwalt Yavuz Narin: Man habe im Gerichtssaal in fünf Jahren Prozess zahlreiche Menschen ohne Rückgrat erleben müssen, so Narin: "Feiglinge, Schreibtischtäter und selbsternannte Opfer".
Witwe: Entsetzt von diesem Staat
Zugleich kämpferisch und emotional zeigte sich Narins Mandantin Yvonne Boulgarides, Witwe des Münchner Mordopfers Theodoros Boulgarides, die gemeinsam mit ihren beiden Töchtern in den Prozess gekommen war und im Saal A101 des Münchner Oberlandesgericht das Wort ergriff. Auch sie sparte nicht mit Kritik an Polizei, Verfassungsschutz und Bundesanwaltschaft, die bis heute nicht genug getan hätten, den NSU-Komplex aufzuklären. Die Behörden hätten ihren Mann vom Opfer zum Täter gemacht, hätten im Drogen- und Menschenhandel unterstellt und die ganze Familie kriminalisiert.
"Ich bin entsetzt von diesem Staat. Hätte man mir das vor ein paar Jahren gesagt, ich hätte es nicht geglaubt."
Witwe Yvonne Boulgarides
Ein ungewöhnliches Treffen
Die Witwe machte erstmals öffentlich, dass sie und ihre Töchter sich mit einem der Angeklagten getroffen haben: Mit Carsten S., dem einzigen der fünf Angeklagten, der Reue gezeigt und umfassend ausgesagt hat.
"Er hat sich nochmals bei uns entschuldigt und währenddessen furchtbar geweint. So etwas kann man nicht spielen, wir haben es gefühlt."
Witwe Yvonne Boulgarides über Carsten S.
Dies sei einer der schwierigsten und emotionalsten Momente ihres Lebens gewesen, so Yvonne Boulgarides. Doch sie habe Carsten S. verziehen und wünsche, dass er eine milde Strafe erhält. Viele Fragen zum NSU seien weiter ungeklärt, kritisierte die Witwe. Deshalb werde sie nicht aufhören, Fragen zu stellen - auch nicht nach einem Urteil.
Wie geht es weiter?
Ein Urteil rückt unterdessen in greifbare Nähe. Die Plädoyers der Nebenklage wurden heute abgeschlossen. Nun stehen die Schlussvorträge der Verteidiger auf dem Programm, außerdem können sich auch die fünf Angeklagten noch einmal äußern.
Mit Beate Zschäpes Verteidigung soll es losgehen, allerdings ist diese zweigeteilt: In ihre beiden vergleichsweise neuen Wunschverteidiger und ihre drei Altverteidiger, mit denen sie sich überworfen hat und kein Wort mehr wechselt. Letztere wollen deshalb erst einmal hören, was Zschäpes neue Verteidigung zu sagen hat und dann über ihr eigenes Plädoyer beraten – weshalb sie schon jetzt eine längere Unterbrechung beantragt haben.
Verteidiger-Plädoyers ab Mitte März
Auch Zschäpes Wunschanwalt Mathias Grasel braucht noch Zeit, um seinen Schlussvortrag fertigzustellen. Derzeit plant das Oberlandesgericht, Mitte März mit den Plädoyers der Verteidigung zu beginnen. Diese werden nach vorläufiger Schätzung insgesamt circa sechs Verhandlungstage in Anspruch nehmen, anschließend muss der Strafsenat sein Urteil verfassen.
Dass es noch vor dem Sommer verkündet wird, scheint durchaus möglich. Die bald fünfjährige Geschichte des NSU-Prozesses lehrt allerdings, dass mit Überraschungen und Verzögerungen immer gerechnet werden muss.