Pflegen bis zum Umfallen Wer hilft den Angehörigen?
24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr, keine freie Minute bei oft schwerer physischer aber auch psychischer Arbeit: die Pflege des Partners, eines Kindes, der Eltern geht bei Angehörigen häufig bis an den Rand ihrer Kräfte. Vom Staat fühlen sich die pflegenden Angehörigen im Stich gelassen. Wo bleibt die Unterstützung? Oder setzt der Staat gar auf diese Aufopferungsbereitschaft seiner Bürger?
Es ist eine stille Arbeit. Sie findet meist in den eigenen vier Wänden statt. Gesehen wird sie nicht. Zumindest das Ausmaß nicht. Erst wenn pflegende Angehörige zusammenbrechen, wird die Belastung sichtbar. Viele Ehepartner nehmen ihr Eheversprechen „In guten wie in schlechten Zeiten“ wörtlich. Ein Segen für viele der Pflegefälle, denn in manchen Heimen macht sich der Pflegekräftemangel bemerkbar. Aber es ist auch ein Segen für den Staat. Denn die Vielzahl der Pflegebedürftigen durch professionelle ambulante oder stationäre Pflege zu versorgen – das würde das System sprengen. Professionelle Pflege ist lediglich als Unterstützung der Pflege durch Angehörige gedacht – das kann man auch im Gesetz so lesen. Die Angehörigen sind somit der größte Pflegedienst der Nation.
Verankert im Gesetz
Dass Angehörige pflegen, ist vom Staat gewollt und ausdrücklich im Sozialgesetzbuch niedergeschrieben. Sozialgesetzbuch 11, §3: „Die Pflegeversicherung soll [...] vorrangig die häusliche Pflege und die Pflegebereitschaft der Angehörigen und Nachbarn unterstützen [...]“. Eine finanzielle Entlohnung ist nicht vorgesehen, auch wenn die Politik in den letzten Jahren ein paar Unterstützungsangebote für pflegende Angehörige geschaffen hat – festgelegt in den so genannten „Pflegestärkungsgesetzen“ unter der Federführung des Bundesgesundheitsministeriums.
"Es ist einfach seit über 100 Jahren in unserem Staat so gelöst, dass die Zivilgesellschaft die Fürsorge füreinander übernimmt - aus moralischen Gründen, aus familien- und generationensolidarischen Gründen. Das hat die Politik so beibehalten. Und jetzt haben wir völlig veränderte Situationen, Rahmenbedingungen, und haben immer noch das gleiche System."
Brigitte Bührlen, Wir! Stiftung pflegender Angehöriger
Eine einfache Rechnung?
Wie kommt das? Die Rechnung scheint einfach: Wird Pflege von „Laien“ übernommen, muss die Pflegeversicherung Pflegegeld bezahlen – das beträgt derzeit je nach Pflegestufe zwischen 244 und 728 Euro. Dieses geht an den Pflegebedürftigen selbst, der es als „Aufwandsentschädigung“ an den pflegenden Laien weitergeben soll. Übernimmt der Profi die häusliche Pflege, wird das als Pflegesachleistung abgerechnet – ein Vielfaches von dem, was ein Laie bekommt. Es beträgt in der Regel zwischen 468 und 1.612 Euro für deutlich weniger Stunden Einsatz. Teilen sich Laie und Profi die Pflege - also beispielsweise ein ambulanter Pflegedienst unterstützt den Angehörigen bei der Körperpflege – dann bleibt am Ende noch viel weniger für den Angehörigen übrig.
"Die Pflegeversicherung unterstützt, was in den allermeisten Familien ganz normal ist, dass wir für einander einstehen und da macht sie uns den Rücken jetzt stärker, indem sie mehr hilft. Dass die professionelle Pflege durch Dritte, bezahlt in einem Arbeitsverhältnis, was Anderes ist, das kennen wir bei ganz vielen Familienleistungen. Eine Familie, die Kindern bei den Hausaufgaben hilft, erhält nicht gleichsam das, was man einem Lehrer bezahlt – um es etwas zugespitzt in einem Bild zu sagen. Sondern es ist ein Unterschied, ob wir Generationensolidarität oder Solidarität in einer Partnerschaft leben, wie das die allermeisten Menschen ja mit eindrucksvoller Hingabe tun und wir dann helfen, beispielsweise durch Absicherung in der Rente."
Hermann Gröhe, Bundesgesundheitsminister
Von der menschlichen Komponente abgesehen – lohnt sich die Pflege durch Angehörige volkswirtschaftlich überhaupt? Dazu gibt es unterschiedliche Meinungen.
"Das Risiko krank zu werden, ist bei den pflegenden Angehörigen viel höher als bei den nicht Pflegenden. Viele halten dann so lange an dieser Aufgabe fest, bis sie zusammenbrechen…bis Burnout angesagt ist oder bis sie in die Klinik kommen mit Depressionen oder sich schwere orthopädische Probleme eingestellt haben. Hier werden dann Kosten ins Gesundheitssystem verlagert, die man sich im Pflegesystem erspart. Ist das volkswirtschaftlich sinnvoll?"
Dr. Cornelia Heintze, Politologin
Ein Ehrenamt, das in die Armut führt?
Was bedeutet das für die Angehörigen? Viele Menschen, die ihre Angehörigen pflegen, können keiner vollständigen Berufstätigkeit nachgehen. Sie arbeiten Teilzeit oder gar nicht mehr. Die finanziellen Einbußen sind enorm. Manche fallen in Hartz IV. Und selbst, wenn seit 2015 Rentenbeiträge für pflegende Angehörige gezahlt werden, so ist das auch keine echte Absicherung. Denn: nur für diejenigen, die mindestens 14 Wochenstunden pflegen, werden Rentenbeiträge von der Pflegeversicherung abgeführt. Doch auch hier muss man wissen: Wenn ambulante Pflegedienste in Anspruch genommen werden, reduzieren sich die anrechenbaren Pflegestunden der pflegenden Angehörigen und damit auch die Rentenbeiträge. Man könnte die Pflege also durchaus auch als Ehrenamt bezeichnen.
Sinkendes Selbstwertgefühl, viel Bürokratie, keine Lobby
Auch das Selbstwertgefühl, die sozialen Kontakte und die Psyche leiden häufig. Dazu gesellen sich enorme bürokratische Hürden: Sich seinen Weg durch den „Pflege-Dschungel“ zu bahnen, überfordert viele Normalbürger. Der Beratungsbedarf ist enorm – und selbst professionelle Pflegeberater sind mit manchen Fällen überfragt. Doch erfahren die Pflegenden zumindest Anerkennung in der Gesellschaft? Nicht wirklich. Eine große Lobby haben sie nicht. Denn wer setzt sich schon ernsthaft mit einer Situation auseinander, bevor sie für ihn selbst wirklich eintritt?
Zahlen und Fakten
29 % der Pflegebedürftigen werden in Heimen versorgt. 71 % der rund 2,6 Millionen pflegebedürftigen Menschen, die Leistungen von den Pflegekassen beziehen, werden zu Hause versorgt. 47 % allein durch Angehörige, 23 % gemeinsam mit ambulanten Pflegediensten.
Würde der Einsatz der pflegenden Angehörigen mit einem Mindeststundenlohn von 8,50 Euro bezahlt, so wären das 37 Milliarden Euro im Jahr. Das Beitragsvolumen der Pflegeversicherung macht rund 26 Milliarden Euro aus. (Quelle: AOK Pflegereport 2016)
Ab 2017 wird es fünf Pflegegrade statt wie bisher drei Pflegestufen geben. Damit sollen mehr Menschen Zugang zu den Leistungen der Kassen bekommen – dabei geht es vor allem um die wachsende Gruppe der Demenzerkrankten.
Für diese Pflegereform steigt der Beitragssatz zur Pflegeversicherung nur minimal von 2,35 auf 2,55 Prozentpunkte. Das bringt 2,4 Milliarden Euro mehr in die Kasse. Dafür müssen mit dem neuen System geschätzt etwa 500.000 Personen durch die Pflegeversicherung zusätzlich versorgt werden. Umgerechnet sind das 400 Euro pro Person im Monat.
Inzwischen gibt es die Möglichkeit, sich vom Arbeitgeber für die Pflege von Familienmitgliedern für 6 Monate freistellen zu lassen, ohne Lohn - die sogenannte Pflegezeit. Zudem haben pflegende Angehörige Anspruch, ihre Arbeitszeit zwei Jahre lang bis auf 15 Wochenstunden zu reduzieren - die sogenannte Familienpflegezeit. Um Einkommensverluste im Zeitraum der Freistellung abzufedern, kann beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA) ein zinsloses Darlehen beantragt werden.
Die öffentlichen Ausgaben für die Pflege sind seit Ende der 1990er-Jahre kaum gestiegen: Sie liegen bei rund einem Prozent des Bruttoinlandproduktes. Die Zahl der Pflegebedürftigen ist im gleichen Zeitraum um 30 Prozent gewachsen.
Keine Angehörigen zur Hand – und nun?
Doch was, wenn die häusliche Pflege durch Angehörige nicht machbar ist? Kinder leben heute oft nicht mehr in der Nähe ihrer Eltern. Einige Pflegebedürftige haben gar keine Kinder oder Angehörige, die sie versorgen könnten. Und Frauen, die bislang zu Zweidrittel die häusliche Pflege übernehmen, wollen und müssen heute berufstätig sein – das zu vereinbaren ist schwer. Es braucht also noch mehr Pflegepersonal – heute schon Mangelware. So gilt es auch neue Wege zu beschreiten: Vereine, lokale Netzwerke, Pflegegemeinschaften, Ehrenamtlichenverbände, Tagespflegeangebote versuchen die Engpässe zu mindern.
"Wenn wir sagen würden „Wir schaffen es nicht mehr“, „Wir wollen es nicht mehr“, „Wir können es so nicht mehr machen“, dann würde die gesamte Pflege in Deutschland zusammenbrechen. Und das ist auch nicht unserem Sinne. Ich erwarte von der Politik, dass sie wirklich an den Gegebenheiten, an den wirklich realen Rahmenbedingungen anfängt zu arbeiten. Und mit uns gemeinsam, mit den Betroffenen, mit den Bürgern gemeinsam anfängt darüber nachzudenken, wie wir gemeinsam diese Pflege in Zukunft gestalten können. Und auch, wie wir in Zukunft finanziell abgesichert sein können."
Brigitte Bührlen, Wir! Stiftung pflegender Angehöriger