1953 21 Tage im Juni
Unser Zeitstrahl führt durch dramatische 21 Tage im Juni 1953. Normerhöhungen und politische Reformen in der DDR werden zu einer brisanten Mischung. Der Volkszorn kocht. Die Menschen fassen den Mut, sich gegen ein wankendes Regime aufzulehnen. Die Sowjetarmee greift schließlich mit Härte ein.
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1. Juni 1953
Wjatscheslaw Molotow (Mitte), sowjetischer Außenminister
1. Juni 1953
Normerhöhung
Die DDR unter Druck: Der sowjetische Außenminister Molotow legt dem Ministerrat der UdSSR "Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der DDR" vor. Die SED-Spitze wird nach Moskau beordert. Überall in der DDR erläutern die Betriebsleitungen, wie die im Mai verordnete zehnprozentige Normerhöhung rechnerisch umgesetzt werden soll, die faktisch auf eine Lohnsenkung in derselben Höhe hinauslief.
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2. Juni 1953
SED-Spitze in Moskau: Szene aus ZDF-Dokudrama zum 17. Juni
2. Juni 1953
Rapport
Rapport beim Großen Bruder: Spitzenvertreter der SED - Walter Ulbricht, Otto Grotewohl und Fred Oelßner - treffen in Moskau ein. Derweil gehen in den Bezirks- und Kreisleitungen der SED Meldungen über "starke ideologische Unklarheiten" der Arbeiter ein, offensichtlich aus Unzufriedenheit mit dem Normbeschluss des DDR-Ministerrates.
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3. Juni 1953
Landwirtschaft in der DDR
3. Juni 1953
Notbremse
Der Aufbau des Sozialismus in der DDR ist Moskau zu riskant. Mit Nachdruck verlangt das Politbüro der KPdSU eine radikale Änderung des politischen Kurses der SED. Der im Sommer 1952 beschlossene beschleunigte Aufbau des Sozialismus sei ein schwerwiegender Fehler gewesen. Moskau fordert, die Zwangskollektivierung unter anderem in der Landwirtschaft zu beenden, den Fünfjahresplan zu revidieren und den Personenkult um Walter Ulbricht einzustellen. Die SED gehorcht widerwillig.
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4. Juni 1953
Berliner Schornsteinfeger 1953 im Streik
4. Juni 1953
Vorgeschmack
Arbeitskampf im Arbeiterstaat: Im "Fortschrittsschacht" in Eisleben streiken die Arbeiter und fordern die Rücknahme des Normbeschlusses. Die Sowjetunion verlagt derweil, die Rüstungsausgaben der wirtschaftlich angeschlagenen DDR zu reduzieren. Auch die Stärke der Streitkräfte soll verringert werden.
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5. Juni 1953
Er beugt sich dem sowjetischen Druck: DDR-Machthaber Walter Ulbricht
5. Juni 1953
Gehorsam
Nach ihrer Rückkehr aus Moskau legen die DDR-Potentaten Ulbricht und Grotewohl das Grundsatzpapier "Über Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der DDR" vor. Auf Geheiß des SED-Politbüros sollen sich sechs Kommissionen um die Umsetzung der Vorgaben aus Moskau kümmern.
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6. Juni 1953
Schießen quer: Fred Oelßner und Rudolf Herrnstadt
6. Juni 1953
Kreuzfeuer
Differenzen in der SED-Führung eskalieren im Streit. Politbüromitglied Fred Oelßner greift Generalsekretär Ulbricht massiv an. Das System aus Befehl und Gehorsam habe versagt. Der Chefredakteur des Parteiorgans "Neues Deutschland", Rudolf Herrnstadt, wirft der Parteiführung "arrogantes nacktes Administrieren" vor. Die Sowjetunion hakt nach und fordert erneut eine politische Kehrtwende.
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7. Juni 1953
Prekäre Lage: Erbsenernte in der DDR
7. Juni 1953
Fassade
Schlechte Arbeitsbedingungen, Misswirtschaft, Landflucht: Die DDR-Landwirtschaft liegt brach. Das ZK der SED lädt deshalb zu einer Konferenz: Ausgesuchte Genossenschaftsbauern und vorbildliche Einzelbauern, Traktoristen und Landarbeiter von volkseigenen Gütern diskutieren über die durch die Kollektivierung entstandenen Probleme.
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8. Juni 1953
Gebäude des Zentralkomitees der SED
8. Juni 1953
Befehle
Im Gebäude des Zentralkomitees der SED werden die Ersten Bezirkssekretäre der Partei zusammengetrommelt. Sie erhalten Instruktionen über die Umsetzung der Anweisungen aus der Sowjetunion. Von nun an müssen sie die Zentrale täglich über den Stand der Umsetzung informieren. Selbst die Uhrzeit ist festgelegt: Zwischen 16.00 und 18.00 Uhr.
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9. Juni 1953
Das DDR-Stahlwerk Hennigsdorf
9. Juni 1953
Arbeitskampf
Im Stahl- und Walzwerk Hennigsdorf treten rund 2.000 Arbeiter in einen Streik gegen die Normerhöhungen. Die Werksleitung stellt 1.000 Ostmark Prämie für die Benennung von "Rädelsführern" in Aussicht. Die Staatssicherheit verhaftet fünf Streikende. Das SED-Politbüro berät unterdessen über Reformen in fast allen Bereichen der Gesellschaft.
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10. Juni 1953
Wladimir Semjonow (rechts mit Wilhelm Pieck) muss in der DDR hart durchgreifen
10. Juni 1953
Vorahnungen
Die Arbeiter in Hennigsdorf lassen sich nicht beeindrucken und streiken weiter. Rudolf Herrnstadt war angeblich klar, dass der "Neue Kurs" eine Schockwirkung sowohl in der Bevölkerung als auch in der eigenen Partei zur Folge haben wird. Den Hohen Kommissar der UdSSR, Wladimir Semjonow, bat er um mehr Zeit. Der orakelte: "In 14 Tagen haben Sie vielleicht schon keinen Staat mehr."
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11. Juni 1953
Einkaufen: In der DDR stets ein Abenteuer
11. Juni 1953
Reformen
Der Sozialismus lockert die Zügel: Die Beschränkungen für die Ausgabe von Lebensmittelkarten werden aufgehoben, die Preise gesenkt, die Zwangsmaßnahmen bei Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen ausgesetzt, die zwangsweise enteigneten Privatbetriebe und Bauernhöfe zurückgegeben und die Fahrpreisermäßigungen bei Arbeiterrückfahrkarten wiedereingeführt. Zudem erhalten zurückkehrende Republikflüchtige ihre vollen Bürgerrechte zurück. Wohltaten zur Stabilisierung des Systems.
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12. Juni 1953
Die ehemalige Stalinallee im Jahr 2002. 1953 einer der Brennpunkte des Aufstandes.
12. Juni 1953
Wahrheiten
In Ostberlin wird auf der Baustelle "Block C-Süd" der Stalinallee gegen Mittag eine Normerhöhung um zehn Prozent verkündet. Die Arbeiter diskutieren empört mit den Funktionären und streiken schließlich kurzzeitig. Die Bürger erfahren derweil über die Parteipresse von den Reformen. Schadenfreude ist zunächst die verbreitete Reaktion: Die SED sei vor den Bürgern eingeknickt. Offiziell werden die Reformen als Erfolg verbucht.
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13. Juni 1953
Ihr Streik schürte den Volkszorn: Bauarbeiter in Ost-Berlin
13. Juni 1953
Agitation
Nun sind die Agitatoren der SED und des FDGB auf den Baustellen in der Stalinallee im Großeinsatz. Die Arbeiter streiken weiter. Die Stimmung ist äußerst gereizt. Schließlich wird ein großer Ausstand für den 15. Juni beschlossen. Das Schweigen der Funktionäre zu der neuen Lage sorgt unterdessen in der breiten Bevölkerung für Unmut. In internen Berichten ist von Vertrauensverlust in die Führung und der Forderung nach Neuwahlen die Rede.
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14. Juni 1953
Menschenmassen auf den Straßen: Eine Diktatur verliert die Kontrolle
14. Juni 1953
Kontrollverlust
Das Unverständnis der Bürger ruft innerhalb der SED Ängste hervor. An der Basis wächst der Widerstand gegen den vom Politbüro verkündeten "Neuen Kurs". Verrat am Klassenkampf sei das, meinen manche. In den Städten gibt es weiterhin einzelne Streiks. Und auch auf dem Lande rumort es: Auflösungserscheinungen in den LPG; Bauern fordern ihre Höfe zurück. Es scheint, als habe die SED das Heft des Handelns verloren. Zu weit gegangen?
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15. Juni 1953
Leipzig am Vorabend des Aufstandes
15. Juni 1953
Holzhammer
Ein von Rudolf Herrnstadt persönlich verfasster Artikel im "Neuen Deutschland" geht in der Stalinallee vom Hand zu Hand. Darin hatte der Chefredakteur von "Holzhammer"-Methoden der Führung bei der Unsetzung der Reformen gesprochen - es wirkte wie die Initialzündung zum Aufstand. Auf den Baustellen in Ostberlin legt die Mehrheit der Beschäftigten die Arbeit nieder. Ultimativ fordern die Arbeiter die Rücknahme der Normbeschlüsse. Herrnstadt, der offensiv der Sturz Ulbrichts betrieb, sollte später in der SED in Ungnade fallen.
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16. Juni 1953
"Solidarität" war der Leitspruch des FDGB - die Ostberliner Arbeiter sahen das anders.
16. Juni 1953
Demonstration
Der FDGB, der Gewerkschaftsbund der DDR, gießt Öl ins Feuer. Die Normerhöhung sei "in vollem Umfang richtig", heißt es in seinem Organ "Tribüne". Diese Worte bringen das Fass zum Überlaufen: Zuerst von der Stalinallee und von der Baustelle des Krankenhauses Friedrichshain aus machen sich Demonstrationszüge auf den Weg. Die Demonstranten fordern die Senkung der Normen und skandieren: "Kollegen reiht Euch ein, wir wollen freie Menschen sein!" Tausende Menschen reihen sich ein.
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17. Juni 1953
Berlin-Karlshorst - heute Museum: Von hier aus rollten die Panzer ins Zentrum Ost-Berlins
17. Juni 1953 7:00 Uhr
Alarm
Der Tag des Aufstandes. In den frühen Morgenstunden rollen sowjetische Panzer auf Berlin zu. Doch zu diesem Zeitpunkt denkt noch niemand daran, dass es in wenigen Stunden überall im Land zu einem Aufstand kommen wird. Bei der Besatzungsmacht gehen immer mehr Meldungen über Streiks und Demonstrationen ein. Die Sicherheitskräfte der DDR sind machtlos. Die Sowjet-Panzer greifen dennoch nicht ein - noch nicht.
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17. Juni 1953
Demonstration in Ost-Berlin eskaliert: Ein Kiosk geht in Flammen auf
17. Juni 1953 12:00 Uhr
Aufstand
Das "Neue Deutschland" rudert zurück: Die Normerhöhungen seien falsch. Doch auf den Straßen der DDR geht es längst nicht mehr um Normen. In einigen Städten gelingt es den Demonstranten, Haftanstalten, Polizeidienststellen, Einrichtungen der Staatssicherheit und der SED zu erstürmen. Die Sowjetarmee mobilisiert 600 Panzer und 20.000 Soldaten. Die SED-Spitze findet sich in Karlshorst ein, wo die Informationen zusammenlaufen.
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17. Juni 1953
Demonstranten werfen Steine auf Sowjet-Panzer
17. Juni 1953 14:00 Uhr
Konfrontation
Ministerpräsident Grotewohl erklärt im Rundfunk noch einmal die Rücknahme der Normerhöhungen. Der Aufstand jedoch sei "das Werk von faschistischen Agenten aus deutschen kapitalistischen Monopolen." In den DDR-Bezirken besetzen die sowjetischen Truppen alle wichtigen militärischen Knotenpunkte und strategischen Positionen. Dennoch dauert es Stunden, bis die Militärs die Situation unter ihre Kontrolle gebracht haben. Trotz des Ausnahmezustandes flammen immer wieder Unruhen auf.
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17. Juni 1953
Der Abend des 17. Juni 1953 in Leipzig.
17. Juni 1953 17:00 Uhr
Tote
Wie viele Menschen sich an diesem Tag im ganzen Land an den Demonstrationen und Streiks beteiligen, steht bis heute nicht fest. Die Angaben bewegen sich zwischen 400.000 und 1,5 Millionen Menschen. Auch über die genaue Zahl der Toten herrscht Unklarheit. Zwischen 50 und 125 sollen es gewesen sein. Nach 21.00 Uhr beginnen Verhaftungen wegen Verstoßes gegen die Ausgangssperre.
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18. Juni 1953
Demonstranten an der Sektorengrenze - nach dem 17. Juni verschärft das Regime der Kontrollen
18. Juni 1953
Ausnahmezustand
Fast überall in der DDR herrscht nun Ausnahmezustand. Sowjetische Panzer und schwer bewaffnete Soldaten prägen das Straßenbild Ost-Berlins. Die Sektorengrenze zum Westen ist dicht. Auf der Vorzeigebaustelle in der Stalinallee ist zwar etwa die Hälfte der Belegschaft zur Arbeit erschienen, doch gearbeitet wird dort noch immer nicht. Die Bauarbeiter fordern, dass die SED-Führung endlich öffentlich Stellung beziehen soll.
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19. Juni 1953
Verurteilt den Aufstand: Der spätere Regimekritiker Robert Havemann (links).
19. Juni 1953
Propaganda
Die Propagandamaschine des Regimes läuft auf vollen Touren. Im "Neuen Deutschland" sprechen "namhafte Persönlichkeiten" aus Kunst, Kultur und Wissenschaft von "provokatorischen Ausschreitungen". Unter ihnen ist auch Robert Havemann - der spätere Dissident. Man habe gesehen, "wie faschistische Rowdys aus Westberlin in der Stalinallee anständige deutsche Arbeiter, die im besten Glauben für ihre berechtigten Forderungen eintraten, zu verbrecherischen Handlungen verleiten wollten zu Brandstiftung und Plünderung." In vielen Betrieben der DDR wird immer noch nicht gearbeitet.
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20. Juni 1953
Ehemalige Hinrichtungsstätte in Dresden: Symbol der politischen Justiz
20. Juni 1953
Todesurteile
Die sowjetischen Standgerichte verhängen Todesurteile: Angebliche Rädelsführer, unter ihnen der 17jährige Axel Schläger aus dem thüringischen Apolda, werden erschossen. Das SED-Politbüro tagt an diesem Tag quasi ununterbrochen. Beschlossen wird unter anderem, rigoros gegen "Staatsfeinde" vorzugehen. Die Polizei wird umstrukturiert und besser bewaffnet. Der Ausnahmezustand bleibt bestehen. Eine erneute Kehrtwende.
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21. Juni 1953
Bundestag gedenkt der Opfer des 17. Juni 1953
21. Juni 1953
Entsetzen
Im Westen wird allmählich das Ausmaß des Aufstandes deutlich. Der Bundestag gedenkt mit einem Trauerakt der Opfer des 17. Juni 1953. Kanzler Adenauer apelliert an die Westmächte, alles zu tun, um die unhaltbaren Zustände im Osten zu beseitigen. Derweil melden die SED-Bezirksleitungen weitgehende Ruhe. Politbüro und ZK beraten über Konsequenzen. Die Kluft zwischen Bevölkerung und Regime wird zwar benannt. Lehren zieht man daraus allerdings nicht. "Die Organisation ist im Augenblick das Kampfinstrument, das wir in Bewegung setzen müssen. Wir müssen aus der Lethargie heraus", sagt Grotewohl.