EU-Beitritt der Türkei Europas Widerstand formiert sich
Das Verhältnis zwischen der EU und der Türkei kühlt sich derzeit im Rekordtempo ab. Österreichs Bundeskanzler Kern fordert ein sofortiges Ende der Verhandlungen zum EU-Beitritt. Unterstützung bekommt er aus Bayern. Die Türkei stellt sich auf stur und verschärft den Ton. Von Oliver Fenderl
Angesichts der Entwicklungen in der Türkei nach dem gescheiterten Putsch werden die Rufe in der EU nach einem Ende der Beitrittsverhandlungen mit Ankara lauter. An die Spitze der Vertreter eines sofortigen Verhandlungsendes setzte sich Österreichs Bundeskanzler Christian Kern. Unumwunden sprach sich Kern für einen Abbruch der Gespräche aus und bezeichnete einen EU-Beitritt der Türkei nur noch als "diplomatische Fiktion". Österreichs sozialdemokratischer Regierungschef will daher die Möglichkeit eines Abbruchs der Gespräche beim kommenden EU-Gipfel am 16. September auf die Tagesordnung setzen.
Die EU sei gegenüber der Türkei "kein Bittsteller", sondern habe wirtschaftlich die Oberhand. Die EU müsse ihre künftige Zusammenarbeit mit der Türkei anders regeln. Ankara bleibe dabei "in sicherheitspolitischen und integrationspolitischen Fragen ein wichtiger Partner" etwa beim Kampf gegen die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat.
Abbruchsforderungen auch aus Bayern
Wie Kern lehnt auch Bayerns Innenminister Joachim Herrmann weitere Verhandlungen mit der Türkei über einen EU-Beitritt ab. Ein Land, das demokratische Werte so mit Füßen trete, könne nicht Mitglied der EU sein. Wer sich in dieser Art und Weise von den Grundsätzen einer freiheitlichen Demokratie entferne, treibe die Beitrittsverhandlungen selbst "in die völlige Aussichtslosigkeit und ad absurdum".
"Es entspricht der Meinung der Bayerischen Staatsregierung, dass die Europäische Union einen Abbruch der Beitrittsgespräche mit der Türkei in Betracht ziehen sollte. Eine türkische EU-Mitgliedschaft kann überhaupt keine Option sein. Die Entwicklungen, die Präsident Erdogan derzeit massiv vorantreibt, sprechen auch jeder Rechtsstaatlichkeit Hohn. Es gibt so keine vernünftige Grundlage mehr für Beitrittsverhandlungen"
Innenminister Joachim Herrmann (CSU)
Kritik aus Brüssel - aber auch der Ruf zur Weiterverhandlung
Andere Töne kommen aus Brüssel. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat sich für die Fortsetzung der EU-Beitrittsverhandlungen ausgesprochen.
"Ich sehe nicht, dass es jetzt von Hilfe wäre, wenn wir einseitig der Türkei bedeuten würden, dass die Verhandlungen zu Ende sind. Das geht so nicht, das müssen alle Mitgliedsstaaten - und zwar einstimmig - beschließen, dass diese Verhandlungen abgebrochen werden. Und diese Bereitschaft aller Mitgliedsstaaten sehe ich im gegebenen Moment nicht."
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im ARD-Interview
Doch ein "weiter so" werde es auch nicht geben, betonte Juncker. Die EU habe sehr wohl das Geschehen im Blick, konkret Verstöße gegen die Menschenrechte. Diese würden auch weiterhin Kernbestandteil für Beitrittsverhandlungen sein.
"Bedingungen sind Bedingungen, wir können nicht in Sachen Menschenrechtsfragen oder in Fragen Antiterrorgesetzgebung von unserem Standpunkt abrücken. Antiterrorgesetzgebung darf nicht missbraucht werden, um Journalisten, Akademiker und andere ins Gefängnis zu stecken, das geht mit uns nicht. Die Türkei, in dem Zustand in dem sie jetzt ist, kann nicht Mitglied der Europäischen Union werden - vor allem nicht wenn sie das täte, was einige anmahnen, nämlich die Todesstrafe wieder einzuführen. Dies hätte zur Folge den sofortigen Abbruch der Verhandlungen."
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im ARD-Interview
Türkei nimmt Kanzler Kern ins Visier
Wenig überraschend die türkische Sicht zu den Abbruchsforderungen. Nach dem türkischen Europaminister verurteilte auch Außenminister Mevlüt Cavusoglu die Forderung Österreichs nach einem Stopp der EU-Beitrittsgespräche. Dass Bundeskanzler Christian Kern in "Türkei-feindliche Diskurse" verfalle, sei "besorgniserregend", sagte Mevlüt Cavusoglu nach Angaben der Nachrichtenagentur Anadolu. Unterdessen bekräftigte Staatschef Recep Tayyip Erdogan seinen harten Kurs gegenüber der Gülen-Bewegung.
Ein Gericht in Istanbul hat einem staatlichen Medienbericht zufolge offiziell Haftbefehl gegen den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen erlassen. Ihm wird vorgeworfen, den Putschversuch vom 15. Juli mit mehr als 270 Toten angeordnet zu haben, wie die türkische Nachrichtenagentur Anadolu am Donnerstag berichtete. Ankara will, dass Gülen, ein ehemaliger Verbündeter von Präsident Recep Tayyip Erdogan, in die Türkei ausgeliefert wird.
Staatsfeind Nummer 1: Fethullah Gülen
Gülen hatte jede Beteiligung an dem gescheiterten Putschversuch von Offizieren des Militärs zurückgewiesen. Zwar habe die Behörden in Ankara bislang keinen offiziellen Auslieferungsantrag an die USA gestellt. Doch könnte der Haftbefehl den Auftakt dazu bilden. Washington hat um Beweise für eine Verwicklung des Predigers in den Putschversuch gebeten. Laut Anadolu wurde der Haftbefehl wegen mehrerer Vorwürfe erlassen.
Vorgeworfen wird Gülen demnach unter anderem ein "Versuch, die Regierung der türkischen Republik zu eliminieren oder sie daran zu hindern, ihre Pflichten zu erfüllen". Die Drahtzieher des Putsches hätten versucht, Erdogan zu töten, sie hätten den Stabschef Hulusi Akar und andere Militäroffiziere entführt, das Parlament bombardiert und Polizisten und Zivilisten umgebracht, die Widerstand geleistet hätten. Es gebe keinen Zweifel daran, "dass der versuchte Putsch eine Aktivität der Terrororganisation war und dass er aufgrund der Befehle ihres Gründers, des Verdächtigen Fethullah Gülen, ausgeführt wurde", zitierte Anadolu aus der Gerichtsentscheidung.
Außerdem wurden zwei nach dem Putschversuch festgenommene Verfassungsrichter aus dem Dienst entlassen. Die Richter Alparslan Altan und Erdal Tercan waren kurz nach dem gescheiterten Putsch am 15. Juli festgenommen worden. Auch ihnen werden Verbindungen zur Gülen-Bewegung vorgeworfen.
Kritik an deutschen Islamverbänden wächst
Die SPD-Politikerin Lale Akgün sieht in den deutschen Islamverbänden keine geeigneten Partner für die Gestaltung des islamischen Religionsunterrichts an staatlichen Schulen. Die in Istanbul geborene Sozialdemokratin gibt zu bedenken, dass es sich ihrer Ansicht nach bei den Verbänden nicht primär um Religionsgemeinschaften handle. Insbesondere den von der Türkei finanzierten Islamverband Ditib bezeichnete die frühere Bundestagsabgeordnete als "politisch handelnde Organisation".
"Sie alle vertreten einen fundamentalistischen Islam. Meines Erachtens spielen die Verbände ein Doppelspiel: Zur Mehrheitsgesellschaft hin geben sie sich fortschrittlich und weltoffen, nach innen vertreten sie fundamentalistische und auch politische Inhalte. Die Frage ist doch, wo der fundamentalistische Islam aufhört und der politische Islam anfängt. Ich glaube, die Grenzen sind sehr verschwommen."
SPD-Politikerin Lale Akgün
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wm, Freitag, 05.August 2016, 07:28 Uhr
5. Ohne Flüchtlingsabkommen.......
.....wäre heute Schluß mit den Beitragsverhandlungen.
Bürgersfrau, Freitag, 05.August 2016, 06:38 Uhr
4. Keine Türkei in der EU
Es ist nicht nur Frau Merkel, die gescheitert ist bei den "deutschen" Bürgern. Die EU wird im Gesamten irgendwann scheitern. Die Länder wollen keinen Islam in dieser Menge.
Wer das nicht einsieht und den Lauf der Dinge erkennt, dem ist nicht zu helfen.
Die Türkei in der EU- undenkbar. Russland in der EU wäre die klügere Entscheidung.
Cosi, Freitag, 05.August 2016, 06:38 Uhr
3. Widerstand
Mein Widerstand formiert sich auch,schon seit 4 Wochen....mindestens.
Dr Religionsunterricht sollte für alle binden das Fach Ethik sein.Warum sollten fremde Verbände sich in unserem Schulsystem einrichten?Dazu besteht kein Grund.Als verlängerter Arm deren Türkei?Nein.
campus, Freitag, 05.August 2016, 00:03 Uhr
2. Einmischung vermeiden
Unser "Westen" kann leidvoll und deutlich sehen wohin so etwas führen kann, womöglich unregierbare Länder wie Afghanistan, Irak, Libyen zu produzieren. Das verwundete und tief gespaltene Volk am Bosporus soll sich erst mal von diesem Schock des 15.Juli erholen können.
Brüssel hat außerdem kein Mandat für Außenpolitik von uns 500 Millionen EU Bürgern.. So etwas ist Sache von Steinmeier und Co. J.-C. Junker kann sich doch nur von knapp 24 % der stimmberechtigten Bürger Europas indirekt gewählt sehen.
Gernoht, Donnerstag, 04.August 2016, 22:29 Uhr
1. Krankenversicherung für Familenangehörige in der Türkei
Dann sollten wir auch mal langsam das in die Jahre gekommene Gastarbeiterabkommen von 1964 kündigen, wonach eine in der Türkei lebende Familiensippschaft, einschließlich der Eltern, durch die deutsche gesetzliche Krankenversicherung finanziert wird. Dieser Kommentar wurde von der BR-Redaktion entsprechend unseren
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