Zeitstrahl zur Zuwanderung Zwischen Gewalt und gewollt
Es beginnt mit den Gastarbeitern, eskaliert in beschämender Aggression und versachlicht sich während der Euro-Krise. Zuwanderung ist für Deutschland kein einfaches Thema - aber ein entscheidendes. Eine Reise durch die Jahrzehnte.
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1955
Wirtschaftsminister Anton Storch mit dem italienischen Außenminister Gaetano Martino
1955
Beginn der Anwerbeverträge
Zehn Jahre nach Kriegsende setzt in Deutschland das Wirtschaftswunder ein. Das Bruttosozialprodukt steigt, die Arbeitslosigkeit geht zurück, der materielle Wohlstand wächst. Der Bedarf an Arbeitskräften ist groß.
Um "Gastarbeiter" zu gewinnen, werden Anwerbeverträge mit Italien (1955), Spanien und Griechenland (1960) geschlossen. Später folgen die Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968). -
1960
Spanische Gastarbeiter laden ihr Gepäck in einen Zug.
1960
Das erzwungene Servus
Die Verträge sind auf wenige Jahre befristet, danach läuft das Aufenthaltsrecht der Gastarbeiter aus. In den 1960er-Jahren werden die ersten zurückgeschickt - auch wenn diese gerne bleiben würden und sich ihre Firmen für sie einsetzen. Die Arbeiter werden durch neue ersetzt. Menschliche Schicksale spielen keine Rolle.
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1973
Türken warten am Düsseldorfer Flughafen auf ihren Abflug in die Heimat.
1973
Der Anwerbestopp
Im Jahr der Ölkrise schreibt der Arbeitsminister unter dem Betreff "Ausländische Arbeitnehmer" an das Arbeitsamt: "Es ist nicht auszuschließen, dass die Energiekrise die Beschäftigungssituation in der Bundesrepublik Deutschland in den kommenden Monaten ungünstig beeinflussen wird." Niemand darf mehr vermittelt werden; es herrscht Anwerbestopp.
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1975
Eine türkische Gastarbeiterfamilie lässt ein Familienfoto von sich machen.
1975
Die Familie kommt hinterher
Viele Arbeiter holen ihre Familien nach. Das Bildungsniveau dieser Menschen ist vergleichsweise gering, ebenso die Chancen auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Die Gesellschaft reagiert zunehmend abweisend.
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1983
Bundeskanzler Helmut Kohl bei einer Rede im Jahr 1983
1983
Kohls Statement
Kurz nach seiner Wiederwahl als Bundeskanzler macht Helmut Kohl (CDU) eine klare Ansage: "Die Zahl der Ausländer muss halbiert werden." Kurz darauf verabschiedet die Regierung ein Gesetz, das allen Migranten 10.000 D-Mark bietet, wenn sie Deutschland für immer hinter sich lassen.
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1989
Polizisten blockieren Straßen in Hoyerswerda, um eine Eskalation der Gewalt zu verhindern.
1989
Der Mauerfall
Mit der Wende nehmen Gewalttaten gegen Einwanderer zu, ebenso die politischen Angriffe auf das im Grundgesetz verankerte Asylrecht. Die Republikaner erhalten acht Prozent der Wählerstimmen. Fortan ist viel von "Überfremdung" und "Asylmissbrauch" die Rede. Die Diskussion um Zuwanderung trägt hysterische Züge.
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1992
Ein Mann vor einem brennenden Pkw auf einer Straße in Lichtenhagen
1992
Eskalation in Lichtenhagen
Die Asyldebatte und die Zahl gewaltsamer Übergriffe auf Asylbewerber und andere Einwanderer erreichen ihren traurigen Höhepunkt in Rostock. Der Stadtteil Lichtenhagen wird zum Synonym für die schwersten rassistischen Ausschreitungen der deutschen Nachkriegszeit.
Zwischen dem 22. und 26. August randalieren Hunderte Neonazis vor einem Ausländerheim. Die Polizei ist vor Ort, greift aber nicht ein. Als das Haus in Flammen aufgeht, ziehen die Beamten ab, tausende Zuschauer applaudieren. Deutschland sieht weg, die Welt schaut auf Deutschland. -
1993
Kanzler Kohl und Angeordnete stimmen über eine Neufassung des Asylrechts ab.
1993
Einschränkung des Asylrechts
Im Mai beschließt der Bundestag den sogenannten Asylkompromiss. Durch die Änderung des Grundgesetzes werden die Möglichkeiten eingeschränkt, sich erfolgreich auf das Grundrecht auf Asyl zu berufen.
Drei Tage nach dem Parlamentsbeschluss brennt das Haus einer türkischen Familie in Solingen. Fünf junge Menschen sterben. Der Anschlag hat einen rechtsextremen Hintergrund. -
2000
Arbeitsminister Riester überreicht einem indonesischen Computerspezialisten die Green Card.
2000
Die Green Card
Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) bietet IT-Experten, die nicht aus der EU kommen, eine Green Card auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Auch wenn Walter Riester, Minister für Arbeit und Sozialordnung (SPD), kräftig dafür wirbt: Die Initiative bleibt eher erfolglos.
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2001
Rita Süssmuth und Innenminister Otto Schily bei einer Pressekonferenz
2001
Ein Entwurf vor 9/11
Im Juli übergibt die Vorsitzende der Regierungskommission zur Zuwanderung, Rita Süssmuth (CDU), einen Neuentwurf der Migrationspolitik an Innenminister Otto Schily (SPD). Die Kommission wünscht sich mindestens 50.000 Zuwanderer pro Jahr. Nach den Anschlägen des 11. September verschwindet das Papier allerdings in der Schublade.
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2005
Selbstständige wie dieser Inhaber eines türkischen Imbissstands haben es leichter.
2005
Freizügigkeit für Arbeitnehmer
Bundesregierung und Opposition einigen sich auf ein Zuwanderungsgesetz. Der Anwerbestopp wird beibehalten. Schlupflöcher gibt es für Selbstständige und Akademiker in der EU.
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2008
Die Umzugskisten sind gepackt: Viele Menschen wandern aus Deutschland aus.
2008
Das Auswanderungsland
Erstmals wandern mehr Menschen aus der Bundesrepublik aus als neu zuziehen. Aus dem Einwanderungs- wird ein Auswanderungsland. Allen voran gehen Führungskräfte aus Wirtschaft und Wissenschaft.
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2009
Arbeitslose stehen in Madrid in einer langen Schlange vor einem Jobcenter an.
2009
Beginn der Euro-Krise
Ab 2009 erschüttert die Euro-Krise viele europäische Länder, unter anderem Griechenland, Irland, Italien, Portugal, Slowenien, Spanien und Zypern. Aufgrund hoher Schulden können sie sich keine neuen Kredite mehr leisten; die Wirtschaften der Länder werden herabgestuft und drohen zusammenzubrechen.
Deutschlands Konjunktur bleibt weitgehend stabil, was es für junge Arbeitnehmer aus den Krisenländern in den Folgejahren attraktiv macht. -
2011
Gedenkstein für die NSU-Opfer
2011
Hass im Untergrund
Im November wird der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) Thema in den Medien, der aus der rechtsextremen Szene der 1990er-Jahre hervorging. Der terroristischen Vereinigung um Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe sollen bis zu 200 Unterstützer angehört haben. Ihr wird eine Mordserie vorgeworfen, bei der zwischen 2000 und 2007 neun Migranten ums Leben kamen. Das späte Eingreifen der Behörden wirft ein nachhaltig negatives Bild auf Deutschland.
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2012
Mann mit Aktentasche: Wer gut verdient, darf eher kommen als andere.
2012
Die Blaue Karte EU
Wer nicht aus der Europäischen Union kommt und Minimum 46.000 Euro Bruttogehalt pro Jahr plus Universitätsabschluss vorweisen kann, erhält seit August die befristete Blaue Karte EU. Sprich: Er darf einwandern.
Ausländische Akademiker haben zudem die Möglichkeit, ein Visum für ein halbes Jahr zu beantragen, um in Deutschland nach einer Arbeitsstelle zu suchen. -
2013
Eine Rekordzahl von Menschen passiert das Europaschild "Bundesrepublik Deutschland".
2013
Der neue Boom
Seit den 1990er-Jahren sind nicht mehr so viele Menschen nach Deutschland gezogen. Eine gute Million ist es, die im Jahr 2012 immigrierte, für 2013 erwarten Forscher einen weiteren Rekord.
Laut OECD ist die Bundesrepublik durch die Reformen der letzten Jahre eines der Staaten "mit den geringsten Beschränkungen" für Zuwanderer geworden - für die hochqualifizierten wohlgemerkt.