Melancholie, Body-Positivity, Queerness Warum der glattgebügelte Popstar 2020 überholt ist
Wachablösung im Mainstream-Pop: Eine neue Generation von Künstler*innen macht sich gerade daran, durch Haltung, Ehrlichkeit und Individualität das klassische Bild vom Popstar zu revolutionieren.
Popstars sind eigentlich wie Superheld*innen: Unterschiedliche Charaktere, die jeweils andere, besondere Fähigkeiten mitbringen. Ähnlich wie in den Universen von Marvel, DC & Co. ist die glattgebügelte Perfektion und übermenschliche Strahlkraft aber so langsam auserzählt. Sogar Stars wie Taylor Swift oder Ariana Grande unterziehen sich quasi musikgewordenen Reflexionsprozessen in Albumlänge, zeigen Haltung und kratzen scheinbar an der perfekten Fassade. Denn Kanten, Meinung, Authentizität und Individualität scheinen heute wichtiger denn je, um wirklich nachhaltig mit der eigenen Musik zu begeistern.
Die Entwicklung hat natürlich etwas mit Zeitgeist zu tun – und der wurde in letzter Zeit von verschiedenen Popstars geprägt, die mit ihrer Persönlichkeit und einem progressiven Ansatz von Musik dazu beitragen, dass sich das Popstartum immer weiter von Stereotypen und Grenzen freimacht.
Billie Eilish – "I’m a bad guy"
Billie Eilish ist mittlerweile Megastar. Aber Popstar im klassischen Sinn ist sie eigentlich nicht. Ihr Debütalbum "When We All Fall Asleep, Where Do We Go" hat sie zum Großteil gemeinsam mit ihrem Bruder Finneas O'Connell im Haus ihrer Eltern produziert. Ihr Look ist genauso wie ihr Sound zwar trenddurchflossen, aber auch total eigen und speziell. Als die Platte 2019 rauskam, war Billie Eilish gerade mal 17 Jahre alt. Trotzdem stammen die Ideen für ihre Outfits, ihr Artwork und ihre Videos von ihr selbst, nicht von irgendwelchen Marketingberater*innen.
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Billie Eilish - bad guy
In Welthits wie "Bury A Friend" oder "Bad Guy" steckt eine Form von introspektivem Teenage-Horror, die es so vorher nicht gegeben hat – und die mehr an Nine Inch Nails oder Marilyn Manson erinnert, als an Mainstream-Pop. Sie setzt sich mit Melancholie, Isolation und Seltsamkeit auseinander und spricht damit die Gefühle, Ängste und Leiden vieler Jugendlicher an – aber nicht weil es trendy ist, sondern weil es wirklich ihre Themen sind. Ihr Sound schafft es, Härte, Minimalismus und eine intime Sensibilität zu erzeugen und trotzdem so zu knallen, dass es auch im Mainstream-Radio funktioniert. Anspruchsvolle Popmusik, wie wir sie zum Beispiel von Lorde oder Lana Del Rey kennen, mischt sich bei Billie Eilish mit Bezügen, die von Odd Future bis zu the Weeknd reichen und ergibt ein Endprodukt, das eben kein Produkt, sondern Billie Eilish ist.
"Everything could be easier if I wanted it to. But I’m not that kind of person and I’m not that kind of artist. And I’d rather die than be that kind of artist."
Billie Eilish im Interview mit der New York Times
Harry Styles – "Shine, step into the light"
Harry Styles, ehemals Casting-Show-Gewinner und späteres Mitglied bei One Direction, einer der erfolgreichsten Boygroups, die je existiert haben, hat eine der spannendsten Entwicklungen der 10er-Jahre hingelegt. Vom Boygroup-Schmusestar zum anspruchsvollen Musiker, der es geschafft hat, Britpop und Siebziger-Glamrock für ein junges Publikum attraktiv zu machen. Neben dem musikalischen Anspruch, den Harry Styles mit seinem Solo-Erstling "Harry Styles" 2017 für sich selbst gesetzt hat, begann sich auch seine gesamte Inszenierung als Star zu verändern: eine neue, sensible Männlichkeit statt überperfekte Schwiegersohn-Attitüde.
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Harry Styles - Lights Up (Official Video)
Auf seinem 2019 erschienenen Album "Fine Line" verschärft er seinen Pop-Rock-Neuentwurf ohne sich allzu weit von massentauglicher Coldplay-Stadionmusik zu entfernen. Dazu kommt, dass er die Verbindung von Siebziger-Spirit mit neuen Trends auch in seinen Outfits umsetzt: Seine androgynen Looks lassen Geschlechtskonventionen hinter sich, er trägt pastellfarbenen Nagellack oder Kleider und weigert sich konsequent dagegen, seine Sexualität öffentlich zu kennzeichnen. Damit hinterfragt er das, was zur Definition eines Popstars in den 2000ern quasi dazugehört hat: Geschlecht, Identität und Sexualität. Er ist sowohl Sexsymbol wie auch ausgeflippter Künstler – und damit wahrscheinlich die modernste Form des klassischen Popstars.
"Today it’s easier to embrace masculinity in so many different things. I definitely find — through music, writing, talking with friends and being open — that some of the times when I feel most confident is when I’m allowing myself to be vulnerable."
Harry Styles im Interview mit i-D
Lizzo – "If I'm shinin', everybody gonna shine"
2019 war die Popmusik endlich bereit für Lizzo. Die Sängerin und Rapperin aus Minneapolis macht zwar schon seit einer gefühlten Ewigkeit Musik, doch bei der breiten Masse war sie lange kaum bekannt. Mit einer unvergleichbaren Energie und Überzeugung zeigt Lizzo in ihrer Musik, wie wichtig die Liebe für sich und den eigenen Körper ist – und wie überholt das Schönheitsideal von Topmodel-Maßen für Popstars. Humorvolle, Sex-positive und empowernde Texte entwaffnen diese veralteten Ideale in einer tanzbaren Rap-Pop-Aufmache und lassen keine Kompromisse zu. Entweder du feierst die Selbstliebe dieser großartigen Performerin und steigst direkt mit ein oder es ist halt echt dein Problem! Denn auf Persönlichkeit und Haltung tanzen zu gehen macht grundsätzlich einfach so viel mehr Spaß!
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Lizzo - Juice (Official Video)
Troye Sivan - "I bloom just for you"
Als Teenager begann Troye Sivan, der in Südafrika geboren wurde und in Australien aufwuchs, seine Karriere als YouTuber. Der musikalische Durchbruch gelang ihm dann 2018 mit seinem Song "My My", dem Track, der auch sein zweites Album "Bloom" eröffnet. Mittlerweile ist er ein Popstar und Posterboy für LGBTQI+-Themen. Denn seine Popsongs sind wunderschöne (Liebes-)Lieder, erzählt aus seiner eigenen Perspektive, nämlich der eines jungen schwulen Mannes.
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Troye Sivan - YOUTH (Official Video)
Die Geschichte der Popmusik ist in vielerlei Hinsicht eine queere, das mal vorneweg. Doch die Songs von Pop-Ikonen wie Elton John oder George Michael sind genau genommen Liebessongs an Frauen. Troye Sivan verleugnet seine Homosexualität nicht in seinen Songs und singt auch mal metaphorisch von Analsex. Auch wenn die Popkultur gerade immer offener für LGBTQI+-Themen wird, indem zum Beispiel immer mehr queere Menschen in Serien oder Filmen vorkommen, findet das im Mainstream nur bedingt statt. Troye Sivan ist vor allem in den USA ein Megastar und seit seiner Rolle in "Boy Erased" als Schauspieler immer bekannter. Seine Relevanz stärkt nicht nur die Präsenz von queeren und in diesem Fall homosexuellen Künstler*innen im Mainstream-Pop, sondern verändert auch das Bild des klassischen, heterosexuellen Popstars.
The future is…
Acts wie Troye Sivan, Lizzo, Harry Styles und allen voran Billie Eilish bereichern den Mainstream-Pop mit ihrer Offenheit. Die kann sich in Form der musikalischen Experimentierfreude, dem Umgang mit Persönlichkeit und Individualität oder der Thematisierung von Queerness und Selbstliebe im Songwriting zeigen. Natürlich setzt der Erfolg dieser Künstler*innen immer noch ein Stück auf die Regeln des Mainstreams. Die Songs bedienen natürlich Songstrukturen und Popelemente, die im großen Stil funktionieren – aber das ist auch gut so! Denn sie setzen Zeichen für ein neues, individuelleres, nahbareres, meinungsstärkeres und offeneres Popstartum – und das eben genau da, wo es die breite Masse am besten erreicht. Wenn sich dieses Bild weiterentwickelt – nicht verfestigt, sondern eben genau noch diverser wird – dann kann das neue Jahrzehnt nur als ein großartiges in die Geschichte der Popmusik eingehen.
Sendung: PULS am 14.01.2020 - ab 19.00 Uhr