Tracks der Woche #38/17 Meute, Gisbert zu Knyphausen, Trettmann, Everything Everything, St. Vincent
Die Tracks der Woche zwischen Chaos und Ordnung: einerseits strukturierte Techno-Blasmusik und ein aufgeräumter Liedermacher, andererseits instabile Verhältnisse, apokalyptische Texte und Gefühlschaos.
Meute – Acamar
Kaum ein Musikgenre hat in den letzten zehn Jahren einen solchen Imagewechsel durchlaufen wie Blasmusik. Ob nun gemischt mit HipHop wie auf der Blumentopf-EP "Fenster zum Berg“ oder zusammen mit Mundart und Balkan-Beats wie bei LaBrassBanda – längst stehen nicht mehr nur 70-jährige Gebirgsschützen auf Posaune und Trompeten. Die Techno-Marching-Band Meute setzt da allerdings noch einen drauf: Die Hamburger nehmen sich bereits existierende elektronische Tracks, arrangieren sie neu und imitieren Aufbau und Klang des Originals mit ihren elf Instrumenten. Mit präziser Handarbeit behalten sie den monotonen Sound bei, lassen ihn aber gleichzeitig wärmer und satter klingen. Aktuelle Hörprobe: die neue Single "Acamar“, die ursprünglich von dem DJ-Duo Frankey & Sandrino stammt. Auf schmückendes Beiwerk wie Vocals haben Meute bei diesem Cover bewusst verzichtet, denn schließlich ist das Arrangement selbst die Hauptattraktion. Zu bewundern auch auf dem PULS Festival 2017 im E-Werk in Erlangen (1. Dezember) und im Funkhaus in München (2. Dezember).
Gisbert zu Knyphausen – Unter dem Hellblauen Himmel
"Der Sommer war ein viel zu kurzer Scherz“, singt Gisbert zu Knyphausen auf seiner neuen Single "Unter dem Hellblauen Himmel“. Und wie Recht er hat. Es ist wieder diese seltsame Zwischendrin-Jahreszeit, wo es morgens viel zu kalt ist, um zu duschen, und man eigentlich nie wirklich weiß, was man anziehen soll. Das ist jetzt vielleicht keine brandneue Erkenntnis, aber darin besteht das große Talent von Gisbert zu Knyphausen: Er fasst scheinbar banale Dinge so gekonnt in Worte, dass sie einen doch überraschen. Dazu kommt, dass der 38-Jährige das Spiel zwischen Stimme und Akustikgitarre grandios beherrscht und auf der aktuellen Single im Klavier einen neuen Freund gefunden hat. Diese Kombination gibt dem Track seine Unbeschwertheit. Nach längerer Pause ist der Sänger also wieder als Solokünstler unterwegs: Neben der aktuellen Single "Unter dem Hellblauen Himmel“ steht für Ende Oktober gleich ein ganzes Album namens "Das Licht der Welt“ an.
Trettmann – Grauer Beton
Wer das Kollektiv KitschKrieg kennt, der weiß: die Berliner – allen voran Fotografin und Regisseurin °awodat° – haben eine Vorliebe für Schwarz-Weiß-Filter und eine ganz besondere Bildsprache. Da ist es nur konsequent, dass das Video von Protegé Trettmann zur aktuellen Single auch zum Großteil in Graustufen getaucht ist. Passt ja auch ideal zum Titel "Grauer Beton“. Damit aber die, die ihn noch nicht kennen, sich ein Bild machen können, wer dieser Trettmann ist, erzählt der Leipziger auf "Grauer Beton“ von seiner Jugend in beziehungsweise nach der DDR. Und dabei braucht der Rapper kein affektiertes Ghetto-Gehabe, um eine heftige Stimmung zu erzeugen, denn die Realität war auch so trist genug. Auf seiner letzten Single "Knöcheltief“ hat Trettmann noch zusammen mit Gzuz gefeiert, wie geil es bei ihnen mittlerweile läuft. Und nach diesem Einblick in die Vergangenheit gönnt man ihm echt jeden Schein, den er macht.
Everything Everything – Night of the Long Knives
Unverbrauchter, intelligenter Indie gefällig? Dann ist man bei den vier Jungs aus Manchester, die sich Everything Everything nennen, an der richtigen Adresse. 2010 wurde die Band für ihr Debütalbum "Man Alive“ abgefeiert, weil sie einen zwar stellenweise exzentrischen, aber trotzdem sehr sinnigen Sound abgeliefert haben. Dieses geordnete Chaos mag daher kommen, dass Everything Everything völlig genrebefreit sowohl Destiny’s Child als auch Minimal-Komponisten zu ihren Einflüssen zählen. Mittlerweile ist das Songwriting von Sänger Jonathan Higgs weniger kryptisch und spiegelt auch aktuelle, politische Themen wider. Bei genauerem Hinhören verbreitet die Single "Night of the Long Knives“ in vielerlei Hinsicht Endzeitstimmung: der Titel verheißt schon nichts Gutes, der apokalyptische Text wird von heulenden Off-Beat-Synthies begleitet und im Refrain erreicht Higgs ungeahnte Höhen.
St. Vincent – Los Ageless
Die US-Künstlerin St. Vincent hat ein besonderes Faible: Songs, in denen es gleichzeitig um einen wichtigen Menschen und eine Stadt geht. Denn mit Städten ist es ein bisschen wie mit Hunden: Sie sagen viel über die Person aus, die sie sich aussucht. Nach der fragilen Ballade "New York“ widmet sich die Sängerin mit "Los Ageless“ jetzt also ihrer Wahlheimat L.A. – und ist scheinbar ziemlich verärgert. Diese Wut haut sie jetzt ungefiltert raus: Synthies aller Art und ihre geliebte Gitarre sind ihre Weapons of Choice. Dabei war das eigentlich anders gedacht: "I try to tell you I love you and it comes out all sick”, haucht sie im Outro leise ins Mikrofon. Ja, unerwiderte Liebe kann schon mal für Gefühlschaos sorgen. Bleibt aber auch noch die Frage, was uns St. Vincent a.k.a. Annie Clark mit dem Musikvideo bestehend aus einem Standbild sagen will, das sie von hinten im Colorblocking-Strumpfhosen-Leoprintbody-Look zeigt.