Tracks der Woche #46/17 SIND, Jerry Williams, Bülow, Bdotissa, Ezra Furman
Die Tracks der Woche entrümpeln: Renovierung nach der Trennung, weg mit der Akustikgitarre, die Romantik wird auch entsorgt, ein Rapper reißt alles ab und ein Künstler räumt mit Geschlechterklischees auf.
SIND – Alpina Weiss
Kaum etwas steht so für einen Neuanfang wie frisch gestrichene Wände: Die tausend Schichten Farbe und Tapete der Vormieter liegen unsichtbar – wenn die Farbe denn deckt – begraben unter reinem, unschuldigem Weiß. Eine Metapher, mit der die Band SIND in ihrem neuen Track "Alpina Weiss“ eine schmerzhafte Trennung verarbeitet. Im Musikvideo dann der klassische Prozess auf dem Smartphone: Fotos löschen, den Ex-Partner auf Instagram stalken und Tinder installieren. Wie auch schon auf ihrer ersten EP "Best Of“ glänzen SIND auf "Alpina Weiss“ mit geschmeidigem Gitarren-Pop und bedächtigem Sprechgesang, der einen Hauch Schwermut in sich trägt und trotzdem irgendwie tanzbar ist. Seit 2013 machen die fünf Berliner zusammen Musik, seitdem sind sie schon mit Dagobert und The Districts auf der Bühne gestanden und haben für's Frühjahr 2018 ihr Debütalbum angekündigt, bei dem auch Bilderbuch-Produzent Zebo Adam die Finger im Spiel hat.
Jerry Williams – Mother
Gleich zu Beginn von "Mother“ fliegt einem diese luftige Gitarrenmelodie entgegen, die sofort gute Laune macht. Die Engländerin Jerry Williams macht Independent-Pop im wahrsten Sinne des Wortes: Die 21-Jährige veröffentlicht ihre Musik in Eigenregie und ohne Label und ihre Single "Mother“ strotzt auf den ersten Blick nur so vor überschäumender Lebensfreude. Bis man sich den Text anschaut: Jerry Williams ist nämlich längst nicht so unbeschwert, wie es scheint: "I’ll be fine. It’s just borderline. Boring with you all the time“, lauten die ersten Zeilen von “Mother”. Und genau dieses Spiel mit happy Instrumentalisierung und deprimierenden Lyrics verleiht dem Track seinen Charme. Mit "Mother“ beweist Jerry Williams, dass sie kein austauschbares Indie-Mäuschen ist, sondern eine ernstzunehmende Künstlerin, die wir alle auf dem Zettel haben sollten.
Bülow – Not A Love Song
Viele Künstler blicken nach einer jahrelangen Karriere mit gemischten Gefühlen auf ihre musikalischen Anfänge zurück – die eine oder andere Jugendsünde hätte man sich vielleicht lieber gespart. Umso spannender ist es da, einen Newcomer von Beginn an zu begleiten. Die 17-jährige Bülow hat gerade ihre erste Single "Not A Love Song" veröffentlicht und was wir da zu hören bekommen, klingt ganz und gar nicht nach unsicheren, ersten Gehversuchen, sondern schon nach einem ausgereiften Konzept: schicke Electro-Pop-Strophen über die Illusionen der Liebe, ein anspornender Refrain inklusive flackerndem Bass und dazwischen diese witzigen Kaugummiblasen-Plops. Die Sängerin Megan Bülow ist vielen Teenagern nicht nur soundtechnisch einiges voraus: Sie lebte bereits in Kanada, Deutschland, Großbritannien, den USA und geht derzeit in den Niederlanden zur Schule. So international wie sie selbst ist, klingt auch ihre Debütsingle "Not A Love Song".
Bdotissa – Last Day
Bdotissa macht gerade das, was viele mittlerweile erfolgreiche Rapper auch schon hinter sich haben (oder es zumindest behaupten… nicht wahr, Drake?): sich von ganz unten hocharbeiten. Der Augsburger hat das Selbstbewusstsein und die Skills, die es braucht, um es nach oben zu schaffen. Mit seinem Track "Bout It“ hat er letztes Jahr schon ein beachtliches Debüt hingelegt, aber Bdotissa hat noch einiges mehr im Köcher: "Last Day“ ist ein neuer Track, der zeigt, welchen Weg der Rapper verfolgt: Kein Halli-Galli-Rap, sondern leicht düstere Beats, anständiger Flow und Texte, die von Kendrick Lamar inspiriert sind. Apropos: Der Newcomer feilt schon mal wochenlang an seinen Lyrics, bis auch wirklich jedes Wort sitzt. Und dass diese Mischung auch live zündet, davon könnt ihr euch im Dezember auf dem PULS Festival überzeugen.
Ezra Furman – Love You So Bad
Ach, Ezra Furman... Gerade jetzt, wo die USA in Sachen Gender in eine ganz böse Richtung abzudriften drohen, brauchen wir ihn dringender denn je. Zum einen, weil sich großartige Musik perfekt eignet, um Eskapismus zu betreiben. Zum anderen, weil Ezra Furman sich selbst als queer und genderfluid – sprich: nicht einem Geschlecht zugehörig – identifiziert und damit dieser oft übergangenen Gruppe eine starke Stimme gibt. Das für nächstes Jahr angekündigte Album "Transangelic Exodus“ wird sich intensiv mit Liebe, Gender, Sexualität, Religion und Solidarität vor dem Hintergrund einer faschistischen Bedrohung beschäftigen. Im Gegensatz zur ersten Single "Driving Down To L.A.“, ist die Single "Love You So Bad“ geradezu zurückhaltend sanft: Klassische Streicher, Schlagzeug und ein Musical-artiger Chor prägen den Song – gekrönt von Ezras reizend androgyner Stimme.
Sendung: Freundeskreis, 6.11.2017 - ab 10.00 Uhr