Ruhmeshalle George Harrison - All Things Must Pass
Wer an die Beatles denkt, der denkt immer an Lennon und McCartney, nicht an George Harrison. Dabei hat der unterschätzte "stille Beatle" 1970 die größte und perfekteste Platte aufgenommen, die ein Beatle je zu Stande gebracht hat.
Immer wenn im Wohnzimmer meiner Eltern mal wieder die Beatles liefen, als ich klein war, sind meine Geschwister und ich auf die Idee gekommen, mitzuspielen: Dann war ich Paul McCartney, mein Bruder war John Lennon, meine Schwester war Ringo Starr. Ein Beatle hat immer gefehlt in dieser Miniplaybackshow: George Harrison. Und das lag nicht nur daran, dass es einfach nicht mehr Geschwister gab als uns drei. George Harrison war immer zu blass, zu unauffällig, um ihn nachspielen zu wollen. "Der stille Beatle", hieß es immer.
Um zu merken, was für ein Blödsinn das ist, dafür hätte es eigentlich nur die großartigen Beatles-Songs gebraucht, die George Harrison geschrieben hat: "Here Comes The Sun", "Something", "While My Guitar Gently Weeps". Aber so richtig aus dem Schatten seiner übermächtigen Bandkollegen Lennon und McCartney getreten ist der stille Harrison doch erst 1970, als sein Soloalbum "All Things Must Pass" erschienen ist.
Wenn es etwas gibt, das George Harrison auf seinem solistischen Befreiungsschlag nicht ist, dann still. "All Things Must Pass" ist eine einzige Wall of Sound, genial in Szene gesetzt vom berüchtigten Produzenten Phil Spector, dem Gitarre/Bass/Schlagzeug nie genug war. Die Band, die wir hören, wird zum Orchester, das von Minute zu Minute anschwillt, bis keine individuellen Stimmen oder Musiker mehr zu erkennen sind. Eine Klangkathedrale, so groß, dass es einen mit Haut und Haar verschlingt.
"All Things Must Pass" ist bombastisch - in einem Maße, das George Harrison sich vorher nie getraut hätte. Wer heute Oasis hört und glaubt, Anklänge an die späten Beatles zu erkennen, der hört eigentlich das Sounddesign von George Harrison anno 1970. Hier finden sich die übermenschlich großen Arrangementexzesse, die Noel Gallagher jahrelang nachzustellen versucht hat.
Mit "All Things Must Pass" hat George Harrison seine alten Bandkollegen in jeder Hinsicht überflügelt: Es war das erfolgreichste aller Post-Beatles-Soloalben, und es war mit Abstand das ambitionierteste: Sechs Schallplattenseiten, ein Dreifachalbum, das alles zusammenfasst, was George Harrison in zehn Jahren Beatles nicht ausleben konnte. Dass Harrison sich mit diesem Opus Magnum so verausgabt hat, dass jahrzehntelang nichts vergleichbares folgte, das versteht sich fast von selbst. Das gehört eben auch zum Erbe der Beatles: Wer einmal solche Perfektion erlangt hat, der kann danach nur tief fallen. Dass George Harrison aus diesem Dilemma ein Album wie "All Things Must Pass" gemacht hat, das macht ihn endgültig unsterblich.
Und sollte ich je mit meinen Kindern Beatles spielen, dann bin ich ganz bestimmt George Harrison. Das bin ich ihm schuldig.