Ruhmeshalle Massive Attack - Blue Lines
Wer Massive Attack auf die Schnelle kategorisieren will, bezeichnet sie als die Erfinder des Trip Hop. Dabei hat das Kollektiv aus Bristol weitaus mehr geleistet als das: Sie haben der modernen Popmusik den Weg geebnet.
Große Veränderungen fangen oft ganz leise an. Manchmal reicht ein Windhauch. Gefolgt von einem dumpfen Basslauf. Einer düsteren Synthiemelodie. Und einem Gesang, der durch Mark und Bein geht.
Ein Paukenschlag hört sich anders an. Trotzdem haben Massive Attack so Anfang der Neunziger die Zukunft der Popmusik neu bestimmt. Alles, was sie dazu brauchten, war ihr Debütalbum "Blue Lines". Unzählige Bands haben sich von der Sogwirkung der schleppenden Genrecollagen inspirieren lassen. Portishead zählten zu den ersten. Björk, Radiohead, Madonna, Kruder & Dorfmeister und x andere Musikgrößen folgten nach. Nicht zu vergessen: Hunderte längst vergessene TripHop-Formationen, deren Omnipräsenz in den Neunzigern ohne Massive Attack gar nicht denkbar gewesen wäre. Und heute muss man nur The Weeknd zuhören und weiß, mit welchen Songs das R'n'B-Wunderkind groß geworden ist.
Schicht für Schicht zum Über-Album
Bis heute lässt sich "Blue Lines" kaum einordnen. Das Album ist weder HipHop noch Soul. Es ist eher wie eine zartschmelzende Schichtspeise aus diesen beiden Genres - schwer, aber nicht erdrückend, angereichert mit butterweichen Lagen aus Dub, Dancehall und Reggae. Einmal damit in Berührung gekommen, ist man süchtig.
Das Schichtsystem definiert nicht nur die Musik, es definiert auch die Menschen, die sie gemacht haben. Denn Massive Attack war nie eine Band im eigentlichen Sinne. Massive Attack ist ein Kollektiv, hervorgegangen aus dem berühmten Wild-Bunch-Soundsystem in Bristol. Gegründet wird es von drei Vollblut-Soundfetischisten, deren Künstlernamen genauso geheimnisvoll klingen wie ihre Musik: Andrew "Mushroom" Vowles, Grant "Daddy G" Marshall und Robert "3D" Del Naja. Von ihnen stammt das Grundgerüst und ein Großteil des Sprechgesangs auf "Blue Lines". Den Rest übernehmen befreundete Musiker wie der spätere Soul II Soul-Produzent Nellee Hooper. Und dann sind da natürlich noch die Gastsänger.
Ein Stelldichein der Stimmwunder
"Unfinished Sympathy", so ziemlich der Klassiker von Massive Attack, ist nur schwer vorstellbar ohne den Gesang von Shara Nelson. Sie ist auch auf der ersten Single "Daydreaming" zu hören - und im Hintergrund rappt Tricky, den damals noch kaum jemand kannte. Reggaesänger Horace Andy wiederum liefert mit Songs wie "Hymn Of The Big Wheel" und "One Love" den ultimativen Grundkurs in Hypnose.
Vom ersten bis zum letzten Ton ist "Blue Lines" ein Meisterwerk. Was aber wohl das Faszinierendste ist: Der Einfluss ebbt nicht ab. Mehr als 20 Jahre nach der Erstveröffentlichung klingt das Album, als sei es gerade erst aufgenommen worden. Und obwohl sich Generationen von Musikern aus den verschiedensten Genres bei Massive Attack bedient haben, ist nie ein Album entstanden, das "Blue Lines" das Wasser hätte reichen können. Und ganz ehrlich: Dieses Kunststück wird wohl auch niemandem mehr gelingen.