Alle Zeit der Welt Das letzte olympische Postkartenschach-Turnier
Postkartenschach ist ein Relikt aus der Vergangenheit. Das 19. Olympische Turnier im Fernschach war das letzte, das analog per Post ausgetragen wurde. Es dauerte Jahre – bis schließlich im Oktober 2021 die allerletzte Postkarte in Bayern eingeworfen wurde.
Als Martin Kreuzer 2016 die erste Postkarte des 19. Olympischen Turniers eingeworfen hat, gab es noch keine Corona-Pandemie. Donald Trump war noch US-Präsident und Horst Seehofer bayerischer Ministerpräsident. Die Welt verändert sich gewaltig, in den Zeiträumen, die eine solche analoge Fernschachmeisterschaft für sich beansprucht. Zum Beispiel die 10. Postschacholympiade. Sie hatte 1987 begonnen. Und die lange Dauer des Turniers hat es möglich gemacht, dass die Deutsche Demokratische Republik noch im Jahr 1995 eine olympische Medaille geholt hat.
Fernschach per Post – wenn die Antwort Wochen dauert
Fernschach per Post zu spielen ist selbst etwas aus der Zeit gefallen, es hat sich überlebt, das sagen auch die Spieler. Es schwingt so etwas wie Nostalgie mit bei diesem letzten analogen olympischen Turnier. Denn die meisten in der Fernschachcommunity spielen längst online. Es war gar nicht so einfach, genügend Spieler zu finden, die noch per Post spielen wollten. Die Zahl der Spieler pro Mannschaft wurde also von sechs auf vier reduziert. Martin Kreuzer ist einer der vier Deutschen. Wochen können vergehen, bevor eine Postkarte, die er in Salzweg bei Passau losschickt, überhaupt bei seinem Gegenspieler am anderen Ende der Welt ankommt. Und die Antwort dauert dann wieder Wochen.
Ein Karton voller Postkarten und Briefe
Martin Kreuzer holt einen Karton, in dem Postkarten und Briefe seiner Gegner wie in einem Karteikasten, chronologisch sortiert, hintereinander aufgereiht sind. Er hebt sie alle auf. Das muss er, bis das Spiel zu Ende ist. Als Nachweis. Für das Spiel selbst braucht er das eigentlich nicht. Sobald er den Zug eines Gegners mit der Post bekommt, überträgt er die kryptische Zahlenkombination vom Papier in seine Schachsoftware.
Die allerletzte Postkartenschach-Partie
Valer Eugen Demian aus Kanada ist der letzte Gegner von Martin Kreuzer. Die beiden sind im Oktober 2021 die letzten auf der Welt, die die altehrwürdige Praxis des Postschachs noch praktizieren dürfen. Aber nicht mehr lange.
Martin Kreuzer eröffnet immer mit dem gleichen Zug. "1.e4" – der Königsbauer rückt zwei Felder vor. Und Valer Demian zieht im Sommer 2016 seinen ersten Bauern auf c7. Das ist eine sehr bekannte Abfolge von Zügen; Standard, in Lehrbüchern nachzulesen, in Kursen gelehrt. Es spult sich eine Kette von Zügen und Gegenzügen ab.
Strategie ist unglaublich wichtig beim Fernschach, noch wichtiger als beim Nahschach. Denn die Partien dauern nicht Stunden, sondern Jahre. Beide Spieler haben also mehr Zeit, zu überlegen. Und sie können sich helfen lassen von Computern und von der Analyse anderer Partien in der Schachgeschichte. Es wird Herbst, Winter. Martin Kreuzer ist sich seiner Sache sicher. Er ist Großmeister, Valer Demian nur Internationaler Meister, zwei Stufen darunter.
Es wird Frühling, die Postflugzeuge transportieren Zug um Zug über den Ozean. Sommer. Und irgendwann überrascht der Kanadier den Deutschen mit ein paar Zügen, die dieser noch nicht kannte. Eine Abweichung von den Lehrwerken, von den Analysen. Eine Handvoll kluger Schachzüge.
"Der Anfang war gut. Aber wenn man so lange spielt, kommt einem das Leben dazwischen. Ich hatte eine schwierige Phase."
Valer Eugen Demian
Was Valer Eugen Demian vom Schachspielen ablenkt sind Jobsorgen. Er arbeitet auf Vetragsbasis und muss schauen, dass Essen auf den Tisch kommt. Und so kann er Martin Kreuzer mit seinen neuen Zügen zwar überraschen, aber nicht überrumpeln. Monate vergehen. Jahreszeiten. Die Figuren bewegen sich. Aber das Spiel steht still, festgefahren. Jahre vergehen.
"Ich habe Martin letztes Jahr Remis angeboten. Er wollte weiterspielen. Jetzt muss ich weiterspielen, bis er Remis anbietet."
Valer Eugen Demian
Denn zum jetzigen Zeitpunkt, im März 2020, nach bald fünf Jahren Spiel, sind sich alle Menschen, die die Partie kennen einig: Der Kampf ist für keinen von beiden mehr gewinnbar. Und doch spielt Martin Kreuzer weiter.
Das Prestige der letzten Karte?
Gibt es so etwas wie das Prestige der letzten Karte? Darüber wurde schon vorher spekuliert. Ob es wohl Spieler gäbe, die ihre Partien verzögerten, oder "verwickelten" wie Martin Kreuzer es über seine eigene Partie sagt, damit sie diejenigen sind, der die letzte Postkarte der Fernschachgeschichte einschmeißen können? Selbst der Deutsche Teamkäptn Matthias Kribben meint: Ja, das kann schon sein, dass manche das machen. Und was denkt der Spieler aus Kanada?
"Ich weiß nicht. Vielleicht, weil den Deutschen Postkartenschach so lieb ist. Aber die Welt dreht sich weiter. Ich war überrascht, dass Postschach E-Mail-Schach überlebt hat. Das ist sehr schnell gestorben. Postschach hielt sich, weil man schöne Postkarten bekommen hat. So gesehen ist Martin ein schlechter Gegner, weil er sehr fade Schachpostkarten schickt."
Valer Eugen Demian
Martin Kreuzer bevorzugt diese schmucklosen Formularvordrucke in Postkartengröße. Er plauscht auch nicht mit seinen Gegnern. Er schickt einfach seine Züge und gut ist. Und jetzt, ziemlich genau fünf Jahre nach Beginn des olympischen Turniers, verzögert er den Abschluss tatsächlich. Das gibt er im Nachhinein zu.
"Also es lief noch eine Partie. Wenn die unentschieden ausgegangen wäre, hätten wir noch eine Chance auf Gold gehabt. Und wir wollten denen nicht die Information geben, wie diese Partie enden wird."
Martin Kreuzer
Aber im Juni 2021 geht diese andere Partie zu Ende – zu Ungunsten Deutschlands. Der Olympiatitel ist jetzt nicht einmal rechnerisch mehr möglich, selbst wenn Martin Kreuzer es schaffen würde, Valer Demian doch noch zu bezwingen. Es steht praktisch fest: Deutschland wird Silber holen. Also Remis und die Medaille sichern? Nicht so schnell. Der Juli geht ins Land.
"Wenn die Partie natürlich schon früher fertig gewesen wäre, dann wäre unter Umständen die Medaille schon in diesem Jahr im Internationalen Fernschachkongress überreicht worden und der war virtuell und das war natürlich nicht so attraktiv. Uns ist es lieber, wenn wir die Medaille in Person nächstes Jahr in Empfang nehmen können."
Martin Kreuzer
Der Turnierleiter hat inzwischen aber schon angedroht, den Wettbewerb zum Jahresende abzubrechen und die verbliebene Partie abschätzen zu lassen, damit diese Meisterschaft endlich abgeschlossen werden kann. Ende August findet dann der Weltkongress des Fernschachbunds statt – online und ohne olympische Siegerehrung.
Und am 7. Oktober 2021 ist es dann so weit: Martin Kreuzer wirft die letzte Postkarte der Fernschachgeschichte in seinen Briefkasten in Niederbayern. Er bietet Valer Demian an der Westküste Kanadas an, sich auf Remis zu einigen. Was der sofort akzeptiert. Deutschland beendet das Turnier mit der Silbermedaille, Kanada landet auf dem 11. von 13 Plätzen. Und plötzlich kann alles ganz schnell gehen.
"Ich wollte das auf Facebook posten. Aber der Turnierdirektor ist mir zuvorgekommen. Er wollte das so bald wie möglich abgeschlossen haben."
Martin Kreuzer
Fernschach gibt es weiterhin – nur eben online
Olympisches Gold geht übrigens an Bulgarien, eine Premiere. Fernschach gibt es natürlich weiterhin, es wird jetzt online gespielt, denn die Zahl der Nostalgiker dürfte überschaubar sein.