Vier Pappeln und eine Frau Ein Kampf gegen Kettensägen
Julia Kempken kämpft seit Jahrzehnten um vier Pappeln, die nahe ihres Hauses stehen. Doch es braucht Glück, Hartnäckigkeit und starke Überzeugungen, um die Bäume zu retten. Ihre Schwiegertochter Anna Kempken hilft ihr dabei.
Am Esstisch in ihrem Nürnberger Wohnzimmer sitzen Anna Kempken, ihr Mann und ihr Baby – acht Monate alt – als der Anruf der Schwiegermutter kommt. "Bringt mir Wasser und ne Powerbank", sagt sie. "Ich bin jetzt an den Baum gekettet." Sie wissen sofort, um welche Bäume es geht. Es sind die vier Pappeln, 30 Meter hoch, die keine 100 Meter vom Haus der Kempkens entfernt direkt neben einer Bahntrasse stehen. Die Schwiegermutter – Julia heißt sie – wohnt zwei Häuser weiter, noch näher an den Bäumen. Und die sollen heute offensichtlich gefällt werden. Gut, die Familie isst noch fertig zu Mittag. Der Mann muss zurück ins Homeoffice, Anna ist in Elternzeit und setzt danach ihren Sohn in den Kinderwagen, schiebt ihn erstmal die Bahngleise entlang. Die Bäume stehen auf der anderen Seite, sie muss durch eine Unterführung, auf der anderen Seite wieder hoch und zurück an den Gleisen entlang. Zu den Pappeln kommt man über den Parkplatz eines Mehrfamilienhauses.
"Ich bin den Garagenhof entlanggefahren – seh auch schon einen Mann mit Helm, also nehm ich an, der gehört zur Baumfällfirma. Dann hab ich am Ende gesehen, das ist mit Flatterband abgesperrt und da telefoniert wieder so n anderer. Dann dacht ich mir: 'Naja, blöd. Ich fahr jetzt nicht mit dem Kinderwagen durchs Flatterband', hab den Kinderwagen an den Sandkasten gestellt, hab ihm ein bisschen was zum Spielen gegeben, hab mir schnell die Wasserflasche geschnappt, bin durch unter das Flatterband durch, hab den Leuten kurz 'Hallo!' gesagt, die ham ja telefoniert, also bin ich nicht stehengeblieben, bin einfach weitergelaufen bis zu meiner Schwiegermutter, die da stand im Gestrüpp, an den Baum gefesselt und hab ihr schnell das Wasser gereicht. Dann hat sie gemeint: 'Mach doch schnell n Foto!' Hab ich schnell n Foto gemacht, bin wieder zurück, hör noch den einen am Telefon: 'Ja, hier hält sich auch keiner an die Baustellenabsperrung…' Und da hab ich nur gesagt: 'Ja, sorry' und bin dann wieder weg, weil ich konnt auch nicht stehenbleiben, ich hab ja mein Kind nebendran stehengelassen. Dann bin ich zurück nach Hause."
Anna Kempken
Die Schwiegermutter kämpft um die Bäume – nicht zum ersten Mal
Für Anna ist die Action vorbei. Für Julia geht der Kampf weiter. Da kommen wir später nochmal drauf zurück. Jetzt erstmal weiter auf Annas Zeitstrahl. Sie ist wieder zuhause, etwas später.
"Nachdem meine Schwiegermutter gesagt hat, sie hat die Presse informiert, dacht ich mir: 'Naja, ich guck mal im Internet, ob da was steht so schnell…' und hab aber dazu jetzt nichts gefunden. Aber lustigerweise gab's bei der Stadt Nürnberg noch eine Geschichte von vor 20 Jahren, wo die Julia, also meine Schwiegermutter, schon mal diese Bäume gerettet hat, die gleichen Bäume. Und da hat sie wohl das Gleiche gemacht. Da ist sie auch einfach hingerannt, hatte damals aber zwei kleine Kinder, hat also zwei kleine Kinder mitgenommen, hingerannt und die Baumfäller gefragt: 'Was macht Ihr da? Warum fällt Ihr Bäume? Habt Ihr ne Fällgenehmigung?' und da hat die Stadtverwaltung tatsächlich direkt jemanden hingeschickt und die ganzen Sachen wurden eingestellt. Und da hat sie die Bäume damals schon gerettet gehabt, jetzt nochmal. Mal schauen, vielleicht steht sie in 20 Jahren mit 80 dann mit dem Rollator da und rettet den nächsten Baum."
Anna Kempken
Die Rettung der Bäume – aus der Sicht von Julia Kempken
Bislang haben wir nur von Anna gehört, wie ihre Schwiegermutter Julia versucht, die großen Bäume an der Bahntrasse zu retten. Höchste Zeit, dass die Hauptperson selbst zu Wort kommt. Die Geschichte von vier Pappeln und einer Frau – jetzt aus der Sicht von Julia Kempken.
"Anna hat mich am Baum gefesselt vorgefunden, mit einem großen Schlingenseil, was wirklich fünf Meter lang ist, weil dieser Baum einen Durchmesser von circa vier Metern hat. Damit ich nicht irgendwie rauskomme, hab ich mir das nochmal so wie eine Acht quasi um den Hals gebunden, dass ich wirklich ganz eng auch am Baum bin und nicht raus kann, hab dann eben dieses Schloss einklicken lassen – es war so ein Einklickschloss – und den Schlüssel hatte ich natürlich vorher jemanden gegeben, der nicht vor Ort war."
Julia Kempken
Julia Kempken verrät ein Geheimnis
Julia Kempken liegen die Bäume am Herzen. Sie war Gründungsmitglied der Grünen in Nürnberg, sie setzt sich für Naturschutz ein. Aber dass für sie persönlich bei diesen Pappeln so viel auf dem Spiel steht, das überrascht doch. Dann erzählt sie etwas, das nicht einmal ihre Familie weiß, wie sie sagt. Damals, vor 24 Jahren, als die Bäume zum ersten Mal gefällt werden sollten, da hat sie sich geschworen: "Wenn ich scheitere, ziehe ich hier weg. Wenn die Bäume weg sind, bin ich es auch." Und daran hat sie sich sofort erinnert, als sie neulich in ihrem Haus die Kettensägen gehört hat und sie durchs Fenster gesehen hat: Es geht wieder um die Pappeln. Und damit geht es um ihre Zukunft in diesem Haus.
Sie eilt die Bahngleise entlang, durch die Unterführung, auf der anderen Seite wieder zurück, über den Parkplatz zu den Arbeitern. Sie missachtet Flatterband und Ermahnungen und geht möglichst nah zu den Bäumen. Denn wenn sie dort ist, kann unmöglich weitergearbeitet werden. Das wäre zu gefährlich. So hat sie es damals gemacht, so macht sie es jetzt wieder. Aber damals war‘s verhältnismäßig einfach. Gut, sie war damals diejenige, die Kinderwagen und Kind dabeihatte, aber abgesehen davon war ihr damals ganz schnell klar, dass die Fällung nicht rechtens wäre. Sie hat den Umfang der Bäume gemessen, sie hat extra ein Maßband mitgenommen dafür.
"Und ich habe den Arbeitern gesagt: 'Sie wissen schon, dass Sie ab einem gewissen Stammumfang eine Fällgenehmigung brauchen. Darf ich die mal sehen?' Und da haben die gesagt: 'Nö, des is Bahngelände, da brauma ka Genehmigung.' Und da habe ich gesagt: 'Das glaub ich nicht, dass Sie keine Fällgenehmigung brauchen. Fragen Sie Ihren Vorgesetzten. Ich will Ihren Vorgesetzten sprechen.'"
Julia Kempken
Mit all ihrer Autorität als einfache Bürgerin verfügt Julia Kempken, dass die Arbeiten nun eingestellt werden, bis der Sachverhalt geklärt ist. 2022 ist das Problem, dass ihrem Smartphone der Akku ausgeht, 1998 ist das Problem, dass an Handy noch nicht zu denken ist. Also flitzt sie mit dem Kinderwagen durch die Unterführung, zurück nachhause, ruft mit dem Festnetztelefon die Stadt an, erklärt ihr Anliegen, bangt in der ganzen Zeit, dass die Arbeiter einfach wieder anfangen könnten zu fällen. Ihr Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung sagt zu, jemanden vorbeizuschicken.
"Und ich so: 'Ja! Schnell!' Und bin wieder rüber getippelt mit Kinderwagen und Kind und hab denen eben gesagt: 'So, weiterhin erstmal Fällstopp!' Und hab dann fleißig gewartet. Dann musste ich erstmal zurück nachhause, weil das Kind Hunger hatte! Und ich dachte so: 'Hoffentlich kommen die bald, hoffentlich kommen die bald…'"
Julia Kempken
Sie kommen. Ohne Genehmigung dürfen die Bäume nicht gefällt werden, Rettung Nummer eins erfolgreich. Spulen wir 24 Jahre vor. Wieder röhren Kettensägen, wieder eilen Kempkenfrauen durch die Unterführung – mit und ohne Kinderwagen – und wieder zweifelt Julia die Rechtmäßigkeit einer Fällung an. Der eine Baum hat aber schon viele Meter seines Stammes verloren. Stück für Stück wird er von oben abgetragen, weil er viel zu groß ist, um ihn auf einmal umzuschmeißen. Anders als damals haben die Arbeiter diesmal aber eine Genehmigung. Sie zeigen sie Julia direkt. Und die freundet sich innerlich schon mit einem Umzug an. Trotzdem kämpft sie weiter. Julia Kempken findet nämlich, dass die Stadt Nürnberg zu leichtfertig Fällgenehmigungen erteilt, dass nicht genug geprüft wird, ob ein Baum wirklich wegmuss. Und das hier ist für sie so ein Fall. Denn das Gutachten wonach die Bäume einsturzgefährdet seien, sagt sie, stammt von der Bahn selbst. Deshalb organisiert sie sich ein langes Metallseil – übrigens der Diebstahlschutz des Rollators ihrer Mutter – und rennt auf die Baustelle.
"Und die sagten wieder: 'Halt! Sie dürfen da ned durch!' Arme auf und ich bin einfach durchgerannt und hab gesagt: 'Sie dürfen mich nicht anfassen.' Und das ist der Moment, da bist Du so unter Adrenalin. Sowas hab ich ja noch nie gemacht und dann stürzt Du auf den Baum zu, durch das Gestrüpp und wickelst diese Kette rum, möglichst schnell. Aber die standen wirklich auch nur da und haben das, glaub ich, ein bisschen fassungslos angeschaut. Und dann dauerte das auch nicht lange und dann war das ruck zuck geschehen, dass ich an diesem Baum war."
Julia Kempken
Stunden verstreichen, die Polizei kommt, versucht ganz ruhig sie zu überzeugen zu gehen; es wird Nachmittag, die Presse kommt und Julia gibt Auskunft, lässt sich fotografieren. Und irgendwann am späten Nachmittag bekommt sie mit, dass die Arbeiten eingestellt werden – für heute zumindest. Erstes Aufatmen. Aber die nächsten Wochen bleibt sie dran am Baum – im übertragenen Sinn – bittet die Stadt, sie möge ein zweites, unabhängiges Gutachten fordern. Die Stadt bittet die Bahn eines einzuholen. Aber wird die Bahn das tun? Es ist ja nur eine Bitte, keine Auflage. Julia weiß nicht so genau, was jetzt eigentlich Sache ist.
"Anfang April hörte ich wieder die Sägen und bin sofort wieder rüber gestürmt. Das Seil hatte ich sicherheitshalber noch im Auto liegen mit dem Schloss, hab mir das geschnappt, mit dem Fahrrad bin ich schnell rüber und war schon wieder bereit, auf diese Baustelle zu stürmen, hab aber von den Arbeitern dort die Information bekommen, dass sie nicht fällen, sondern dass sie nur Baumpflege machen, also die äußeren Äste alle abkappen, kürzen, dass keine Bruchgefahr mehr besteht und dass die Bäume stehenbleiben würden."
Julia Kempken
Bäume und Nachbarn passen aufeinander auf
Und damit ist klar: Julia kann dort wohnen bleiben – schon alleine, um weiterhin bei jedem Kettensägengeräusch sofort rüber düsen zu können. Julia Kempken erklärt das so: Bäume, die in Gruppen stehen, wie die vier oder jetzt dreieinhalb Pappeln, die passen aufeinander auf. Sie schützen sich zum Beispiel gegenseitig vor Wind oder warnen sich vor anderen Gefahren. Funktioniert das auch in der Nachbarschaft von Julia? Gibt es dort nun ein Warnsystem, sobald irgendwelche Kettensägen anspringen?
"Ich habe tatsächlich aus der Nachbarschaft einen Brief bekommen. Das fand ich total nett. Der lag plötzlich bei mir im Briefkasten, von Nachbarn, die ich gar nicht kannte und die sagten, sie finden des supertoll und sie passen jetzt aber auch mit auf."
Julia Kempken