Ein Ort für den ganzen Menschen Die Bibliothek als Aufenthaltsort
Bibliotheken sind mehr als nur eine Sammlung von Büchern – sie sind Orte mit Seele, die ihr Publikum inspirieren und zum Verweilen einladen. Das zeigen Buchtauschregale, Schulbibliotheken, eine Forschungsbibliothek oder auch die kleinste Bibliothek der Welt.
Inspiration, Kontakt, Begegnung, Erweiterung des Wissens, Freude – all das vermögen große Ansammlungen von Büchern, genannt Bibliotheken, zu spenden. Sie sind keine Ansammlung von totem Text, sondern entwickeln ihr eigenes Leben. Selbst ihre vermeintlich sparsamste Form, das öffentliche Buchtauschregal, wurde rasch mehr als eine anonyme Buchtauschbörse. Seinen Erfindern, dem international aktiven Künstlerduo Clegg & Guttmann, schwebte bei ihrer ersten Installation 1991 in Graz eine "antiautoritäte Bibliothek ohne hierarchische Organisation" vor, die zugleich auch ein "Porträt des Stadtteils" sein sollte, doch auch darüber ist das Buchtauschregal hinausgewachsen.
Der römische Staatsmann und Philosoph Cicero nannte seine Bibliothek die Seele des Hauses, und ebenso ließe sich von den öffentlichen Minibibliotheken sagen, dass sie die Plätze beseelen, an denen sie stehen, als fester Anlaufpunkt für Menschen, die Bücher lieben, und bei passendem Wetter gern verweilen, um zu lesen oder mit jemandem ins Gespräch zu kommen.
Aus einem Buchtauschregal wird die "Leseinsel"
Damit liegt es in der Natur der Sache, dass sich in Weisendorf bei Erlangen das Buchtauschregal zur Keimzelle für die "Leseinsel" entwickelte, eine offene Begegnungsstätte rund ums Buch, gegründet im Jahr 2020 von zwei engagierten Frauen, Petra Embacher und Ingrid Steidl, die dafür von der Gemeinde das Erdgeschoss eines mit öffentlichen Mitteln sanierten Gebäudes zur Verfügung gestellt bekamen sowie einen Anschaffungsetat. Die wichtigste neue Zutat aber ist ein lebendiges Drumherum, das zu mehr animiert als nur Bücher mitzubringen oder mitzunehmen.
"Die Leseinsel lädt ein, auf einer ruhigen Insel in Büchern blättern zu können, neue Welten kennenzulernen; man kann sich hier mal auch bei einer Tasse Kaffee zusammensetzen, sich über Bücher austauschen, den Kindern vorlesen, mit den Kindern Spiele veranstalten, Rätselspiele; Hausaufgabenbetreuung haben wir auch noch auf dem Plan, dass wir da unterstützend tätig sein können. Also alles, was mit Lesen und Schreiben und mit fröhlichem Austausch zu tun hat, aber auch mit Lernen können, möchten wir hier anbieten."
Petra Embacher, Leseinsel
"Auf der Leseinsel sind wir vier Frauen, und wir haben uns das eingeteilt in vier Tage, an denen wir jeweils zwei Stunden hier vor Ort sind und darauf warten, dass Leute reinkommen und sich unsere Bücher ausleihen oder sich auch einfach mal aufs Sofa setzen und schmökern in den Büchern, die anschauen, oder – ich freu mich auch immer, wenn ich eine interessante Unterhaltung mit jemandem führen kann."
Ingrid Steidl, Leseinsel
"In dem Haus befinden sich oben auch drei Wohnungen für anerkannte Flüchtlinge, das ist auch eine Möglichkeit, Kinder, die jetzt nicht unbedingt einen Migrationshintergrund haben, die nicht unbedingt eben mit der Sprache aufgewachsen sind, an die deutsche Sprache heranzuführen, damit sie hier besser klarkommen können."
Petra Embacher, Leseinsel
Petra Embacher ist dem geschriebenen Wort auf vielfache Weise verbunden. Sie hat bereits viele Jahre lang den Weisendorfer Lesekreis organisiert, war als Lesepatin in der Leseförderung an der Schule tätig, ist Mitglied bei den Wortkünstlern Franken und im Vorstand des Autorenverbands Franken. Zusammen mit Ingrid Steidl und den zwei weiteren ehrenamtlichen Mitakteurinnen Christiane Kolbet und Heike Claus gestaltet sie das Leseinsel-Programm, in dem dank des Etats, den die Gemeinde zur Verfügung stellt, auch die klassische Autorenlesung ihren Platz hat, mitsamt anschließender Diskussion bis in den späten Abend. Das gemeinsame Erleben steht im Mittelpunkt.
Kindern vorlesen: "Die glücklichsten Stunden meines Lebens"
"Ich bin dabei bei der Leseinsel, weil ich sehr gerne vorlese. Die glücklichsten Stunden meines Lebens waren die, in denen ich mit meinen fünf Kindern zuhause gemütlich in einem Sessel saß, alle eng beieinander gekuschelt, und Mama hat vorgelesen."
Christiane Kolbet, Leseinsel
Christiane Kolbet bietet als Vorleserin die Klassiker an, mit denen schon ihre Kinder aufgewachsen sind: Pippi Langstrumpf, Emil und die Detektive, Das Dschungelbuch oder Der kleine Wassermann.
"Ich hatte einfach Lust, diese tollen Momente, die ich mit meinen eigenen Kindern erlebt habe, nochmal zu erleben, vielleicht mit anderer Leute Kindern, und die sind herzlich eingeladen zu kommen hierher in die Leseinsel nach Weisendorf. Ich lese einmal im Monat vor, Bücher, die mir gefallen, die meinen Kindern gefallen haben und hoffentlich auch anderen Kindern gefallen werden."
Christiane Kolbet, Leseinsel
Seele des Schulhauses – die Bibliothek der Wilhelm-Löhe-Gesamtschule
Das Bibliotheks-Team (von links nach rechts): Mohammed Siddig, Felix Ludewig, Sebastian Ludwig, Valentin Weinmair.
Ein Ort, an dem man sich geborgen fühlt, ein Ort, an dem man man selber sein darf, Gleichgesinnte findet, tolle Momente erlebt – mit Schule bringt man das nicht unbedingt in Verbindung. Anders wird das, wenn die Schule eine Bibliothek besitzt. Den Fünftklässlerinnen Junia, Sophie, Lucy und Sara steht an der Nürnberger Wilhelm-Löhe-Gesamtschule eine Bibliothek zur Verfügung, die deutschlandweit zu den größten ihrer Art gehört – und außerdem zu den wenigen, die nicht nur nebenbei von einer Lehrkraft betreut werden, sondern ganztägig zur Verfügung steht, betreut von einem Vollzeitbibliothekar Sebastian Ludwig. Die Schule besitzt damit einen genius loci ganz eigener Art und schafft Lehrern wie Schülern Anreize des Verweilens, die über praktische Erwägungen wie Leseförderung oder Wissenserwerb hinausgehen.
"Bibliotheken sind ja auch Begegnungsorte, und das erlebe ich hier auch, dass sich Schülerinnen und Schüler all unserer Schularten hier begegnen, austauschen, und auch die Kolleginnen und Kollegen, also die Lehrerinnen und Lehrer hier in der Bibliothek sind, die können hier auch ausleihen, wir haben ja auch Erwachsenenbelletristik mit in unserem Angebot, und dadurch ist es schon ein Ort der Begegnung, der das Miteinander bei uns im Haus, denk ich, sehr positiv beeinflusst."
Sebastian Ludwig, Bibliothekar
Zahlreiche Schülerinnen und Schüler ergreifen gern die Möglichkeit, sich die Bibliothek als einen einladenden Ort zu gestalten. Einer von ihnen ist der Mittelschüler Valentin Weinmair, der sich in der Löheschule auf den Quali vorbereitet.
"Ich bin in die Bibliothek gekommen dadurch, dass ich am Anfang, wie ich hierhergekommen bin, das interessant fand, was hier gemacht wurde, und dann hab ich den Herrn Ludwig gefragt, ob ich mitmachen kann, und seitdem unterstütze ich tagtäglich bei was eben ansteht und bin auch in den Pausen und in den Freistunden da. Wenn ich Freistunden hab, dann bin ich teilweise hier, weil meine S-Bahn nicht anders fährt, und bevor ich irgendwo rumsitze und warte, helfe ich hier mit. Und in den Pausen bin ich auch da. Weil ich hier mittlerweile auch Freunde habe, mit denen verbringt man dann hier zusammen die Pause und arbeitet dann hier zusammen."
Valentin Weinmair, Schüler
In der Person des Assistenten Felix Ludewig hat die "Bibi", wie die Bibliothek im Haus genannt wird, einen Unterstützer, der sie bereits als Schüler betreut hat und gern hierher zurückgekehrt ist.
"Ich war hier Schüler auf der Mittelschule und war hier auch in meiner Freizeit, wenn ich mal ne Freistunde hatte, immer auch sehr gerne in der Bibliothek. Nach meinem Abschluss war ich dann lange Zeit arbeitssuchend gemeldet, denn ich wollte ursprünglich Fachinformatiker für Systemintegration werden. Aufgrund des Programmierens war das etwas zu schwer für mich- Deswegen hab ich hier quasi ein sechsmonatiges Praktikum abgeschlossen, und nach sechs Monaten hat man mir gesagt, jawoll, man übernimmt mich hier. So bin ich hier zu der Stelle gekommen, als Bibliotheksangestellter."
Felix Ludewig, Bibliotheksangestellter
Wie die "Leseinsel" in Weisendorf ist auch die Schulbibliothek der Löheschule ein Veranstaltungsort für alles, was Literatur betrifft: Autorenlesungen und Vorlesewettbewerbe, aber auch Workshops, in denen vermittelt wird, dass man sich Wissen nicht einfach und ausschließlich aus ein paar Klicks im Internet erwirbt. Und auch hier erweist sich die Bibliothek als ein Ort, der neu Zugewanderten hilft, sich zu integrieren, etwa dem Mittelschüler Mohammed Siddig, der erst seit neun Monaten im Land ist.
"Ich helfe gerne, ich räum immer die Bücher auf. Es ist ganz einfach, weil, die Schüler sind sehr nett."
Mohammed Siddig, Schüler
Eine Bibliothek, die der jüdischen Geschichte Frankens einen Ort gibt
Manche gehen vielleicht in Bibliotheken mit dem Wunsch nach Begegnung, Unterhaltung, ein klein wenig Heimat. Für andere dagegen ist die Bibliothek ein Ort konzentrierter, zunächst einsamer Arbeit. Sie sammeln Wissen, bewahren Erinnerungen und – geben sie weiter. Auch aus stillen Forschungsbibliotheken führt der Weg immer zurück ins Leben.
"Das hier ist Gedaja Mordechai, das ist ein gedrucktes Gebetbuch, aber es sind hier handschriftliche Ergänzungen drin in hebräischer Schrift. Es geht um das Hungerjahr in Fürth im neunzehnten Jahrhundert, und er fasst hier zusammen, was es zu essen gegeben hat, also, wie es der jüdischen Gemeinde da gegangen ist, was Essen gekostet hat in dieser Zeit, und da sind dann auch Gebete mit drin, und das ist so eine Art Selbstzeugnis, eine Chronik, und das haben wir dann auch komplett übersetzen lassen."
Daniela Eisenstein, Jüdisches Museum Franken
Daniela Eisenstein ist seit 2003 Direktorin des Jüdischen Museums Franken, das auf die drei Standorte Fürth, Schwabach und Schnaittach verteilt ist. Zum Fürther Museum gehört die 2018 eröffnete Krautheimer Studienbibliothek, die unter den fränkischen Bibliotheken einen ganz besonderen Rang einnimmt, indem sie der jüdischen Geschichte Frankens einen Ort gibt. Ermöglicht wurde sie durch eine große Spende der jüdischen Familie Krautheimer, einer ehemals in Fürth ansässigen Kaufmannsfamilie, die der Stadt im Jahr 1910 bereits ein Säuglingsheim stiftete, die sogenannte "Krautheimer-Krippe".
"Die Bibliothek richtet sich in erster Linie tatsächlich an Forschende. Unser Ziel ist es, alles zur jüdischen Geschichte und Kultur Frankens zu sammeln. Wir haben viel über Talmud, über rabbinische Literatur, über die Bibel, wir haben viele Geschichtsbücher, Bücher über jüdische Philosophie, wir haben jüdische Kunst, Architektur, und natürlich auch Bücher zur jüdischen Geschichte."
Daniela Eisenstein, Jüdisches Museum Franken
Herzstück der Krautheimer Studienbibliothek ist das nicht öffentlich zugängliche, gut verschlossene Depot, in dem die Temperatur konstant bei 20 Grad und die Luftfeuchtigkeit bei 40 Prozent gehalten wird, um die hier gelagerten Unikate zu schützen. Es handelt sich teils um alte Drucke, von denen ein großer Teil aus den hebräischen Druckereien stammt, die sich ab dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts in Fürth etabliert hatten, teils um handschriftliche Dokumente wie Gebetbücher, Poesiealben, Tagebücher oder Kochbücher jüdischer Familien.
"Jedes Kochbuch spiegelt sozusagen den Grad der Akkulturation oder der Assimilation einer Familie im 19. und 20. Jahrhundert wider. Da haben wir verschiedene Kochbücher, und zum Beispiel findet sich in vielen Kochbüchern auch ein Rezept für die Fürther Zitronentorte, also ein Rezept, das tatsächlich nur in den Kochbüchern jüdischer Familien aus Fürth bekannt ist, und das höchstwahrscheinlich auch mal in ganz früher Zeit ein Pessachrezept war. Das Backen der Fürther Zitronentorte spielt auch eine wesentliche Rolle in unserem Backprogramm 'kulinarische Reise', die wir hier im jüdischen Museum Franken sonntags öfters anbieten, dass man anhand von Rezepten aus Franken von jüdischen Familien diese Dinge nachbäckt und die Geschichte dazu erfährt."
Daniela Eisenstein, Jüdisches Museum Franken
Mit solchen Angeboten gelingt der Direktorin Daniela Eisenstein der Spagat zwischen der Bibliothek als Ort der Bewahrung und Erforschung der jüdischen Geschichte in Franken und dem Wunsch, ein breites Publikum zu erreichen, das die Bibliothek als einen Ort erlebt, an dem Geschichte lebendig werden kann. Eine weitere Maßnahme in diesem Sinne ist der Ausbau des Bestands an Belletristik jüdischer Autoren, auch gezielt jüdischer Kinder- und Jugendbuchautoren, sowie ein breites Angebot an interaktiven Führungen, Workshops für Schulklassen und Fortbildungen für Lehrer.
Die kleinste Bibliothek der Welt
"Hier in diesem Schaukasten, in dieser Schauvitrine sehen wir die kleinste Bibliothek der Welt. Was ist das? Das ist eine Sammlung von Miniaturbüchern, erstellt von Valentin Kaufmann. Valentin Kaufmann ist hier in der Region geboren, 1891 in Lengfurt, und dann nach München übersiedelt, er hat zunächst eine Zimmermannslehre absolviert und ist dann bei der Berufsfeuerwehr in München gewesen. Er hat in den 1930er, 1940er Jahren eine Reihe von, wie man sagt, Klein- und Kleinstschreibkunstwerken auf unterschiedlichen Trägermaterialien erstellt, und die Stadt Marktheidenfeld hat von seiner Tochter Erna Amalia im Jahr 2004 diese kleinste Bibliothek geerbt."
Inge Albert
Anlass für die Erstellung der Bücher war eine Wette unter Freunden, wer den Rekord im Miniaturschreiben aufstellen könne. Valentin Kaufmann beschrieb daraufhin eine Postkarte mit 12.515 Buchstaben, was etwa sechs bis sieben Schreibmaschinenseiten entspricht, und wurde damit Weltrekordhalter. Danach beschrieb er auch Streichhölzer, Knöpfe und Briefmarken und fertigte schließlich eine Reihe von Miniaturbüchern an, von denen eines sogar im Jahr 1950 dem Papst als Geschenk überreicht wurde.
"Unsere kleinste Bibliothek der Welt, das sind in Leder gebundene kleine Büchlein, die sogar eine Goldschließvorrichtung haben, eine Goldprägung, und ein Kleinstbuch, das nur haselnussgroß ist, also, das ist das Kleinst-Kleinstbuch."
Inge Albert
Die Kleinstbücher, sind zu zierlich und fragil, um gelesen zu werden. Doch sorgen sie für Inspiration und regen manch einen dazu an, sich selbst einmal darin zu versuchen, Miniaturwelten aus Text zu erschaffen.
Auch in der kleinsten Bibliothek der Welt macht das Verweilen Freude. Residiert sie doch im Marktheidenfelder Franck-Haus mit seiner tiefblauen, reich geschmückten Fassade, das 1745 als Wohnsitz des wohlhabenden Weinhändlers Franz Valentin Franck errichtet wurde. Heute, umfangreich saniert und unter der engagierten Obhut der Kulturamtsleiterin Inge Albert, ist es das lebendige, ambitioniert geführte Kulturzentrum der Stadt – mit Autorenlesungen, wechselnden Kunstausstellungen, Konzerten, einem Café sowie einem idyllischen Garten. Kein Wunder, denn es beherbergt ja eine Bibliothek. Es besitzt damit eine Seele und kann so, wie jeder Ort, an dem Bücher gesammelt, bewahrt, gelesen und erforscht werden und an dem man sich über seine Lektüre austauscht, zu einem ganz besonderen Ort des Verweilens werden.