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Frühstart ins Leben Frühgeburt

Ungefähr jedes zehnte Baby kommt in Deutschland zu früh auf die Welt - also vor der vollendeten 37. Schwangerschaftswoche. Dank moderner Medizin haben auch extrem früh geborene “Frühchen” heute gute Chancen.

Von: Marlene Mengue

Stand: 14.11.2022

Ein Frühchen liegt im Brutkasten. | Bild: stock.adobe.com/Stefan Dinse

Eine normale Schwangerschaft dauert 40 Wochen. Im Mutterleib wird das Kind über die Nabelschnur mit allem versorgt, was es braucht. Nach der Geburt kappen die Geburtshelfer die Nabelschnur. Nun ist das Kind auf sich selbst angewiesen, muss die Aufnahme von Sauerstoff und die Abgabe von Kohlendioxid über die Lunge selbst bewerkstelligen. Und es muss Nahrung aufnehmen und in seinem Magen-Darm-Kanal die Nährstoffe, die vorher über die Nabelschnur kamen, selbst aus der Milch der Mutter herausfiltern. “Diese sogenannte Transition ist mit die gefährlichste Zeit des Lebens”, sagt Prof. Andreas Flemmer. Er leitet die Neugeborenen-Intensivstation der LMU Kliniken in München. 

Experte:

Prof. Dr. Andreas Flemmer, Leiter der Neugeborenen-Intensivmedizin (Neonatologie) am LMU-Klinikum München an den Standorten Großhadern und Innenstadt. Andreas Flemmer ist außerdem 2. Vorstandsvorsitzender im Verein “Frühstart ins Leben e.V.”, der Frühgeborenen und ihren Familien Unterstützung bietet.

In den letzten Schwangerschaftswochen rüstet sich das Baby im Mutterleib für diese Transition. Um die 32. Schwangerschaftswoche herum bildet die Lunge ihre feinen Lungenbläschen heraus. Es legt an Gewicht und Größe zu. Je nach Schwangerschaftsdauer und Gewicht kommen Säuglinge mit der Transition aus dem Mutterleib in die Welt besser oder schlechter klar. “Ein Kind der 37. Schwangerschaftswoche kann vollkommen normal zur Welt kommen und sich gut an die Welt hier draußen anpassen”, sagt Flemmer. Je unreifer das Kind, desto unreifer sind seine Organe und desto schwieriger ist für sie der Übergang. Deshalb werden Frühgeborene in Kategorien aufgeteilt: Vor der 32. Woche Geborene nennt man sehr früh Geborene; jene, die vor der 28. Woche auf die Welt kommen sind extrem früh Geborene. Bei den Gewichtsklassen unterscheidet man zwischen leichten Frühgeborenen unter 2.500 Gramm, sehr leichten Frühgeborenen (VLBW = Very Low Birth Weight) mit weniger als 1.500 Gramm, und extrem kleinen Frühgeborenen, (ELBW = Extremely Low Birth Weight) bei einem Geburtsgewicht von weniger als 1.000 Gramm. 

Die früheste Frühgeburt, die Andreas Flemmer und sein Team je betreut haben, kam in der 23. Schwangerschaftswoche auf die Welt und wog circa 300 Gramm. Heute merkt man dem Mädchen nicht mehr an, dass es so viel zu früh auf die Welt kam. Doch nicht alle Frühgeborenen haben so viel Glück. 

Die Grenze zur Lebensfähigkeit ist ein Graubereich. Sie befindet sich zwischen der 23. und 25. Schwangerschaftswoche - also knapp etwas mehr als der Hälfte der eigentlichen Schwangerschaftsdauer. Inwiefern ein so früh geborenes Kind überlebensfähig ist, hängt von einigen Faktoren ab:

  • ob es vorher möglich war, dem Kind über die Mutter per Spritze eine Lungenreifebehandlung zu verabreichen
  • ob das Kind die Gewichtsgrenze von ca. 400 Gramm überschritten hat
  • ob es ein Mädchen oder Junge ist (früh geborene Mädchen haben zehn bis zwanzig Prozent bessere Überlebenschancen als Jungen)
  • ob eine Infektion der Fruchthöhle vorliegt
  • ob es der ausdrückliche Wunsch der Eltern ist, das Überleben des Kindes trotz möglicher Komplikationen zu sichern

"Unter optimalen Bedingungen kann selbst ein Kind in der beginnenden dreiundzwanzigsten Schwangerschaftswoche durchaus eine gute Überlebenschance haben, nämlich von etwa 50 bis 60 Prozent. Und dann ist es ein Abwägen zusammen mit den Eltern, ob ein aktives Vorgehen oder eben ein begleitendes, vielleicht auch palliatives Vorgehen eher im Sinne des Kindes wäre."

Prof. Andreas Flemmer, Leiter der Neonatologie am LMU-Klinikum München

Eine palliative Behandlung bedeutet, sicherzustellen, dass das Kind keine Schmerzen verspürt und keine Atemnot hat. Ein aktives Vorgehen, das das Überleben des Kindes sichern soll, sei unterhalb der zweiundzwanzigsten Schwangerschaftswoche heutzutage nicht empfohlen.

"Zu dem Zeitpunkt ist es so, dass die Organentwicklung eigentlich zwar da ist, aber die Funktion der Organe der Blutgefäße, der Lunge, des Herzens, des Darms und der Nieren so unreif ist, dass man nur mit Aufwendungen von maximaler Intensivmedizin vielleicht ein Überleben erreichen kann. Die Wahrscheinlichkeit des Überlebens liegt dann deutlich unter 50 Prozent und ein großer Teil dieser Kinder trägt schwerwiegende Beeinträchtigungen im späteren Leben davon."

Prof. Andreas Flemmer, Leiter der Neonatologie am LMU-Klinikum München

Ein erhöhtes Risiko haben Frauen,  

  • die unter 18 oder über 35 Jahre alt sind, 
  • die Mehrlinge erwarten,
  • bei denen schon Eingriffe an der Gebärmutter durchgeführt wurden,
  • die besonders belastet sind - emotional oder physisch.

Der häufigste Grund für eine Frühgeburt ist eine aufsteigende Infektion. Die Infektion, zum Beispiel mit B-Streptokokken, E.coli oder Listerien, steigt von der mütterlichen Scheidenflora zur Fruchthöhle auf und kann das Kind direkt erreichen. Antibiotika können zwar helfen, doch in manchen Fällen erreichen die Medikamente das Kind nicht im Mutterleib, sodass sich das Ärzteteam für eine vorzeitige Entbindung entscheidet, um das Kind vor der Entzündung zu schützen. Weitere Gründe für eine Frühgeburt sind zum Beispiel Funktionsstörungen der Plazenta oder des Muttermunds.

Je nach Diagnose gibt es verschiedene Ansätze, eine drohende Fehlgeburt zu verhindern. Handelt es sich um eine Infektion, kann die Mutter zusammen mit ihrem betreuenden Gynäkologen versuchen, mit sogenannten Lactobacillus-Tabletten die Scheidenflora positiv zu beeinflussen. Bei einer Muttermundinsuffizienz kann strenge Bettruhe oder ein Muttermundsverschluss eine Schwangerschaft verlängern.

Während der ersten Lockdowns in der Coronapandemie haben Ärzte in vielen Ländern beobachtet, dass weniger Kinder zu früh auf die Welt kamen. Das liegt vermutlich daran, dass Mütter sich durch die Ausgangsbeschränkungen eher geschont haben. Deshalb empfehlen Ärzte, das strenge Mutterschutzgesetz in Deutschland unbedingt einzuhalten, das nicht nur sechs Wochen Mutterschaftsurlaub vor dem errechneten Entbindungstermin vorschreibt, sondern auch körperliche Schwerstarbeit während der Schwangerschaft verbietet. 

In ungefähr 90 Prozent der Fälle kündigt sich eine Frühgeburt an. Das Ärzteteam hat dann noch Zeit, das Kind auf die Transition aus dem Mutterleib heraus vorzubereiten. Wichtig ist hier vor allem die Lungenreife. Ungefähr in der 32. Schwangerschaftswoche entwickelt sich die Lunge des Babys so weit, dass es selbständig atmen kann. Die Lungenbläschen mit ihren dünnen Wänden entfalten sich. Um sicherzustellen, dass ein Frühgeborenes - mit Unterstützung - nach der Geburt atmen kann, werden der Mutter vor der Geburt Lungenreife-Spritzen verabreicht.

Wenn sich eine Frühgeburt ankündigt, werden Mütter am besten in einer Klinik der höchsten Versorgungsstufe, einer sogenannten Level 1-Klinik, versorgt.

"Sehr kleine Frühgeborene unter 1.500 Gramm sollten immer in einem Perinatalzentrum der maximalen Versorgungsstufe versorgt werden. Und da gibt es viele in Deutschland, da sind wir Spitzenreiter."

Prof. Andreas Flemmer, Leiter der Neonatologie am LMU-Klinikum München

Die Level 1-Kliniken zeichnen sich durch eine spezialisierte Pflegeausstattung und spezialisiertes Personal aus. Für besonders instabile Kinder gibt es eine Eins-zu-Eins-Versorgung, eine Krankenschwester kümmert sich also nur um ein Kind. Bei Kindern, die etwas stabiler sind, gilt die Eins-zu-Zwei-Versorgung. Außerdem müssen die Level 1-Kliniken rund um die Uhr Spezialisten vorhalten: einen Kinderarzt und einen Geburtshelfer mit Spezialausbildung. Außerdem müssen mindestens 40 Prozent des Pflegepersonals die Zusatzausbildung zur Kinderintensivpflege abgelegt haben.

Darauf gibt es noch keine abschließende Antwort. Es gibt Daten, die zeigen, dass die vaginale Geburt auch für sehr kleine Frühgeborene keinen wesentlichen Nachteil gegenüber der Kaiserschnittgeburt darstellt. Aber die schonende Entbindung dieser Kinder ist per Kaiserschnitt wesentlich einfacher. 

"Es hängt so ein bisschen davon ab, wie weit die Frühgeburt fortgeschritten ist. Wenn zum Beispiel der kindliche Kopf schon tief ins Becken eingetreten ist und die Mutter eine Mehrgebärende ist, dann kann eine vaginale Entbindung genauso gut gehen wie eine Kaiserschnitt-Entbindung."

Andreas Flemmer, Leiter der Neugeborenen-Intensivmedizin Neonatologie am LMU-Klinikum München

Noch vor 15 Jahren durften Eltern ihre Kinder nur stundenweise besuchen. Heute sind Vater und Mutter integraler Bestandteil des Betreuungsteams. Der direkte Hautkontakt zwischen Eltern und Kind, auch als “Känguruhen” bezeichnet, ist ein essenzieller Bestandteil der Versorgung von Frühchen. Vater oder Mutter legen dabei das Frühgeborene, auch wenn es noch an Schläuchen hängt, direkt auf die nackte Brust - natürlich zugedeckt, damit das Baby nicht auskühlt. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass die Kinder durch den Hautkontakt ruhiger werden, ihr Herzschlag und ihr Atem verbessern sich. Außerdem stärkt das Känguruhen die Bindung zwischen Eltern und Kind.

Auch Frühchen können und sollen von Anfang an mit Muttermilch ernährt werden. Doch oft sind die Kleinsten noch zu schwach, um an der Brust zu trinken. Und die Mütter brauchen in der Regel ein paar Tage, bis nach der frühen Geburt die Milchbildung in die Gänge kommt. Deshalb gibt es in einigen Level 1-Kliniken Milchspendebanken. Mit der Spendermilch werden die ersten Tage überbrückt. Ein besonderer positiver Effekt: Wenn junge Mütter dank der Spendermilch keinen Druck verspüren, Milch produzieren zu müssen, fällt die Milchbildung leichter.  

Sobald die Kinder kräftig genug sind und das Risiko für eine Aspiration (das Einatmen der Muttermilch) gering ist, unterstützen Still- und Laktationsberaterinnen die Mütter bei den ersten Stillversuchen an der Brust. Eine aufwändige Prozedur, die aber in vielen Fällen gelingt. 

  • Hirnblutungen: Je unreifer Kinder auf die Welt kommen, desto häufiger treten diese auf. 
  • Lungenerkrankung: Viele Frühgeborene entwickeln später im Leben eine bronchopulmonale Dysplasie (BPD)
  • Chronische Nierenschwäche
  • Körperliche und geistige Beeinträchtigungen, zum Beispiel in Form einer Muskelspastik

Wie wahrscheinlich einerseits ein Überleben, andererseits ein Überleben ohne Komplikationen ist, hängt stark von der Schwangerschaftswoche ab, in der das Kind zur Welt kommt. Zwischen der 26. und 28. Schwangerschaftswoche beträgt die Überlebenswahrscheinlichkeit 90 Prozent, zwischen der 24. und 26. Woche 80 Prozent. In diesem Zeitraum liegt die Wahrscheinlichkeit für ein gesundes oder nur geringfügig beeinträchtigtes Leben über 60 Prozent. Das heißt, ein Drittel dieser Kinder haben Beeinträchtigungen, die bis ins spätere Leben reichen. 

"Die Qualität des Überlebens ist immer eine Frage der Betrachtung. Es kann für manche Kinder sehr belastend sein, wenn sie Konzentrationsschwierigkeiten als Folge ihrer Frühgeburtlichkeit haben. Und andere Kinder, die wegen einer ausgeprägten Spastik im Rollstuhl sitzen, aber sich ansonsten gut entwickeln können, können eine hohe Lebensqualität empfinden."

Prof. Andreas Flemmer, Leiter der Neonatologie am LMU-Klinikum München

Heutzutage haben auch extreme Frühgeborene gute Überlebenschancen. Auf der Frühchenstation am Standort Großhadern in München werden jedes Jahr 500 bis 600 Früh- und Neugeborene betreut. Ungefähr acht bis zehn Frühgeborene versterben jedes Jahr auf der Station. Ausgebildete Palliativ- und Trauerbegleiter stehen den Eltern zur Seite. Sie ermöglichen es der Familie, die verbleibende Zeit gemeinsam zu verbringen. Sogenannte Sternenkindfotografen sorgen mit Fotos für bleibende Erinnerungen. Wenn das Kind verstorben ist, bekommen die Eltern eine kleine Schatzkiste mit Andenken. Ungefähr drei bis sechs Monate nach dem Tod des Kindes laden die Ärzte die Eltern zu einem Nachgespräch ein, um das Geschehene zu reflektieren.

Als Faustregel gilt, dass zu früh geborene Kinder bis zu ihrem eigentlich errechneten Geburtstermin klinische Versorgung brauchen. In der Praxis können viele Kinder jedoch schon deutlich früher entlassen werden. Ärztinnen und Ärzte haben erkannt, dass das häusliche Umfeld vielen Kindern helfen kann, sich gut zu entwickeln.

In den letzten Jahren beobachten Neonatologen, dass es mehr Frühgeburten gibt. Dies liegt unter anderem daran, dass immer mehr Frauen über 35 Kinder bekommen. Mit zunehmendem Alter wird das Risiko für Schwangerschaftskomplikationen und eben auch Frühgeburten erhöht. 

"Die Methoden der Kinderwunschbehandlung spielen hierbei natürlich auch eine Rolle. Denn assistierte Befruchtung kann auch zu einem höheren Prozentsatz Mehrlingsschwangerschaften hervorrufen. Und diese Mehrlingsschwangerschaften haben ein höheres Risiko, zu früh zu Ende zu gehen, sodass wir hier durch die gesellschaftliche Entwicklung einen gewissen Zuwachs an Frühgeburtlichkeit beobachten."

Prof. Andreas Flemmer, Leiter der Neonatologie am LMU-Klinikum München

Schon seit vielen Jahren forschen Wissenschaftler an einer künstlichen Plazenta oder einer künstlichen Gebärmutter, die den Mutterleib nach einer frühen Geburt ersetzen könnte – dies ist im Tiermodell mit großem Aufwand möglich. Neonatologe Andreas Flemmer hält die Umsetzung in der Klinik in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren für unwahrscheinlich. 

Es gibt durchaus technische Möglichkeiten, mit denen Frühgeborene auch vor der 23. Schwangerschaftswoche überleben könnten. Allerdings gibt es hier ethisch-moralische Beschränkungen.

"Allein die Haut dieser Kinder ist so verletzlich, dass es ethisch sehr fragwürdig ist, ob man sie wirklich aktiv behandeln sollte. Ich sehe heute die 23. Schwangerschaftswoche in einer gewissen Weise als eine ethisch-moralische Grenze."

Prof. Andreas Flemmer, Leiter der Neonatologie am LMU-Klinikum München