Risiken und Nebenwirkungen Medikamente im Alter
Wer älteren Menschen ein Medikament verordnet, muss sich in besonderer Weise mit der Wirkung dieses Arzneimittels, mit seiner möglichen Nebenwirkung oder gar Unverträglichkeit auseinandersetzen. Denn der Körper älterer Patientinnen und Patienten reagiert häufig anders auf ein Medikament als der junger Menschen.
Ältere Personen leiden zudem oft gleichzeitig an verschiedensten Erkrankungen und werden deshalb mit einer ganzen Reihe verschiedenster Medikamente gleichzeitig behandelt – mit der möglichen Konsequenz unerwünschter und manchmal auch unerkannter Wechselwirkungen.
Experte:
Dem Text liegt ein Gespräch zugrunde mit Prof. Dr. med. Hans Jürgen Heppner, Facharzt für Innere Medizin und Geriatrie; Direktor der Klinik für Geriatrie am Klinikum in Bayreuth, Medizincampus Oberfranken, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Medikamente gegen Herzschwäche wirken grundsätzlich diuretisch. Sie entziehen dem Körper also Flüssigkeit, kurbeln die Harnproduktion und Urinausscheidung an. Eine Gruppe dieser Arzneimittel jedoch hat eine besondere Nebenwirkung: Wer ein solches Medikament schluckt, dessen Körpersalz, das Natrium, wird mit dem Urin ausgeschieden. Das gilt zwar für junge wie für alte Menschen.
"Problematisch für den älteren Menschen kann es an dieser Stelle aber werden, wenn er eine Nierenfunktionsstörung hat. Die stellt sich natürlich im Alter eher ein, weil die Organe - von der Physiologie her und alterstypisch - ja auch ein bisschen schlechter werden. Also nicht nur die Haut bekommt Falten, sondern auch der Rest im Organismus."
Prof. Hans Jürgen Heppner
Die Nierenleistung bei einem 75- oder 80-jährigen Menschen ist bei weitem nicht mehr so gut wie bei einem jungen Erwachsenen. Die Folge für den Menschen, der dieses Medikament gegen Herzschwäche verordnet bekommt:
"Die Nebenwirkung 'Salzverlust', die wir bei allen Patienten und Patientinnen kennen, hat bei Älteren eine andere Auswirkung als bei Jüngeren. Denn der alte Organismus verliert mehr Salz, ist unter Umständen empfindlicher. Das sollte man natürlich bedenken, wenn man dieses Medikament Senioren verordnen möchte."
Prof. Hans Jürgen Heppner
Hyponatriämie ist der Fachbegriff für diesen Salzverlust im Körper. Gedächtnisstörungen, Sturzneigung oder Koordinationsschwierigkeiten gehen damit einher – eine Folge, die für Ältere viel problematischer ist als für junge Menschen.
Bei Einnahme eines bestimmten Anti-Blutdruckmittels kommt es häufig zu Unterschenkelödemen – bei älteren noch häufiger als bei jungen Patientinnen und Patienten.
"Und die besondere Problematik ist: Kennt man diese Nebenwirkung dieser Substanz nicht, greift man möglicherweise schnell zu einem wassertreibenden Medikament, einem Diuretikum. Weil man eben annimmt, dieser Mensch hat Wasser in den Beinen."
Prof. Hans Jürgen Heppner
Die wassertreibende Arznei wiederum verursacht den gefährlichen Salzmangel im alternden Körper, möglicherweise bis zum Delir.
"Eigentlich wäre es ganz einfach: Man tauscht das Anti-Blutdruckmittel aus und dann verschwinden die Ödeme. Hier aber wird eventuell eine Nebenwirkung als neue Krankheit fehlinterpretiert und noch einmal behandelt. Wir nennen das eine Verordnungs-Kaskade. Gerade ältere Menschen sind durch solche Verordnungs-Kaskaden speziell gefährdet." Prof. Hans Jürgen Heppner
"Für mich beginnt die Frage der Medikation bei alten Menschen schon bei ganz praktischen Dingen, schon bei der Verpackung: Ich denke hier an eine 80-jährige Patientin mit rheumatoider Arthritis. Ihre Hände sind in Bewegung und Funktion eingeschränkt. Sie kann so bestimmte Medikamente schon gar nicht aus dem Blister drücken."
Prof. Hans Jürgen Heppner
Viele ältere Menschen kommen - nach einem Schlaganfall oder mit Sensibilitätsstörungen - oft überhaupt nur mit Schwierigkeiten an ihre Medikamente, wenn keine unterstützende Hilfe da ist. Auch bereitet alten Menschen die Einnahme von manchmal riesigen Kapseln Probleme. Sie haben einen geringeren Speichelfluss, leiden an trockenem Mund.
"Das ist ja aber ganz normal und durch viel mehr Flüssigkeit beim Einnehmen der Medikamente auszugleichen. Die veränderte Zusammensetzung der Magensäure im Alter ist da schon schwerwiegender."
Prof. Hans Jürgen Heppner
Im Alter verändern sich die Magenschleimhaut und die Zusammensetzung der Magensäure. Durch diese sogenannte Atrophische Gastritis bildet sich bei manchen älteren Menschen viel weniger Salzsäure. Der PH-Wert (also das Milieu im Magen) und die Fähigkeit des Magens, Medikamente aufzuspalten und zu verdauen, sind im Alter deshalb anders. Die nächste mögliche Hürde im Alter im Verarbeitungsprozess von Medikamenten: Die Leber.
"Auch die Leber ist im Alter etwas schlechter durchblutet und weniger leistungsfähig. Das kommt zwar im Alltag nicht unbedingt zum Tragen. Aber eben dann, wenn ältere Menschen verschiedene Medikamente einnehmen, die die Leber verstoffwechseln muss."
Prof. Hans Jürgen Heppner
Medikamente konkurrieren dabei um Abbau-Enzyme der Leber, denn viele Medikamente benötigen das gleiche Enzym. Wenn sich dann der Abbau in der Leber staut, weil ein Enzym sozusagen schon besetzt ist, steigt der Wirkspiegel eines Arzneimittels. Auch die Niere kann besondere Schwierigkeiten beim Abbau von Wirkstoffen bereiten, denn die Nieren eines 80-Jährigen scheiden Arzneimittel nur halb so effektiv aus wie die Nieren eines jungen Menschen.
"Bei Menschen mit reduzierter Nierenfunktion ist die ansonsten angeratene Dosierung eines Arzneimittels also eventuell zu hoch mit der Konsequenz von Nebenwirkungen."
Prof. Hans Jürgen Heppner
Grundsätzlich kommt bei vielen Menschen höheren Alters das sogenannte "Frailty-Syndrom" zum Tragen, nämlich eine generelle Gebrechlichkeit und auch Empfindlichkeit des Körpers mit zunehmendem Alter: Der Organismus ist nicht mehr so widerstandsfähig, wenn er gestresst wird.
"Das kann Stress von außen wie von innen sein, das kann eine Krankheit sein, auch ein banaler Infekt. Aber auch schon die Veränderung eines Schmerzmittels kann durch diese Frailty, diese Empfindlichkeit, zu unvorhergesehenen Problemen im Magen-Darm-Bereich führen. Ich erkläre das meinen Patienten und Patientinnen gerne so, dass wir es im Alter sozusagen mit einem wackeligen Organismus zu tun haben."
Prof. Hans Jürgen Heppner
Das Risiko von unerwünschten Wechselwirkungen von verschiedenen Medikamenten steigt mit der Zahl der Arzneimittel, die ein Mensch verabreicht bekommt. Alte Menschen sind häufig multimorbide, leiden also an vielen verschiedenen Erkrankungen gleichzeitig. Viele Erkrankungen werden mit vielen Medikamenten behandelt. Im Schnitt nimmt ein 65-Jähriger vier verschiedene Wirkstoffe pro Tag ein. In der Gruppe der 75- bis 80-Jährigen sind es durchschnittlich bereits sechs bis neun Arzneimittel am Tag. Und diese wiederum stehen manchmal morgens, mittags und abends auf dem Plan.
"Wechselwirkungen bei der Vielzahl an Medikamenten gibt es häufiger als bei einem jüngeren Erwachsenen, der noch über ein physiologisch junges Organsystem verfügt. Denn auch hier wieder: Der ältere Organismus kann sich nicht mehr so gut wehren oder ist nicht mehr so widerstandsfähig. Da geht es auch um die erwähnte Empfindlichkeit (frailty)."
Prof. Hans Jürgen Heppner
Im Zweifelsfall schließen sich zwei Medikamente zur Behandlung von zwei unterschiedlichen Erkrankungen gegenseitig aus. Für welches Medikament wird man sich entscheiden?
"Wenn ich weiß, für welche Indikation ich das Medikament brauche, schließe ich natürlich eher das Medikament aus, das nicht an alten Menschen erprobt wurde. Dann kann ich z.B. in der Priscus-Liste (Anm.: s. dort) nachschauen, was für einen alten Menschen geeignet ist. Und dann muss ich priorisieren."
Prof. Hans Jürgen Heppner
Der Wunsch nach Selbständigkeit spielt für einen alten Menschen vielleicht eine größere Rolle als das Motto eines jungen Menschen, nämlich ‚Hauptsache gesund!‘. Ebenso für die Entscheidung der Arztes:
"Ich erinnere gerne an den 80-jährigen Patienten, dessen Vorhofflimmern gut eingestellt war, der mit seinem Betablocker gut zurechtkam. Dieser Patient bekam Demenz. Heute gibt es Medikamente, mit denen es gelingt, die Demenz ein bisschen aufzuhalten. Die aber vertragen sich auf keinen Fall mit Betablockern. Die jeweiligen Leitlinien schlagen das eine und das andere vor, das geht aber nicht beides gleichzeitig. Ich entschied mich dafür, das Demenzmittel nicht zu geben und dem Patienten damit vor allem Bewegungsfähigkeit zu erhalten. Denn die ist vielleicht noch das einzige, was in der Demenz für ihn wichtig sein wird. Jede einzelne Leitlinie für sich genommen ist natürlich richtig. Aber wir behandeln Multimorbidität ja nicht mit der Summe der Leitlinien."
Prof. Hans Jürgen Heppner
Was für ältere Menschen harmlos klingen und verführerisch sein mag als Aufbau- oder Gedächtnispräparat, da es ohnehin ohne Rezept in der Apotheke zu haben ist, macht möglicherweise durch Wechselwirkungen die Therapie der eigentlichen Erkrankung zunichte.
"Das ist durchaus gefährlich. Wenn z.B. jemand sich ein im Vorabendprogramm stark beworbenes Präparat gegen Vergesslichkeit besorgt - es ist ja auch frei verkäuflich -, dann wird derjenige nicht wissen, dass dieses Medikament gegen Vergesslichkeit in der vorgeschlagenen Dosierung die Blutungs-Gefahr und das Blutungsrisiko erhöht, und zwar am Zahnfleisch, im Magen-Darm-Trakt … und das um ein Vielfaches. Wenn dieser Patient aber gleichzeitig bereits ein Mittel zur Blutverdünnung beispielsweise wegen seines Vorhofflimmerns einnimmt, dann ist das sehr gefährlich."
Prof. Hans Jürgen Heppner
Ob Medikamente gegen Vergesslichkeit, ob Ginkgo- oder Johanniskrautpräparate – in jedem Fall sollten die behandelnden Ärzte und Ärztinnen von einer Einnahme in Kenntnis gesetzt werden.
"Noch ein Beispiel, das ebenfalls besonders ältere Menschen betrifft: Wurde einem Patienten im Rahmen der Behandlung seines Herzinfarktes Aspirin verordnet, wird er durch den Kauf und die Einnahme von (frei verkäuflichem) Novalgin die Wirkung des Aspirins (und damit den Schutz vor einem weiteren Herzinfarkt) abschwächen."
Prof. Hans Jürgen Heppner
Manche Wirkstoffe sind grundsätzlich nicht geeignet für ältere Menschen. Andere wiederum sind für ältere Menschen zwar nicht ungeeignet, aber nach den allgemeinen Angaben des Beipackzettels einfach zu hoch dosiert für den älteren Organismus. In beiden Fällen besteht die Gefahr der sog. potentiell inadäquaten Medikation (PIM).
"Das eine ist ja die Dosis, das wusste ja schon Paracelsus, als er meinte, nur die Dosis macht das Gift. Die Dosierung bereitet uns tatsächlich manchmal Probleme bei bestimmten Substanzen. Z.B. Medikamente zur Herzschwäche- oder auch zur Blutdrucktherapie. Da muss man die Therapie gerade bei älteren Menschen ein bisschen langsamer angehen, ansonsten wird es beim älteren und schwächeren Organismus schnell riskant."
Prof. Hans Jürgen Heppner
Gar nicht verordnet werden sollte älteren Patienten und Patientinnen, so der Experte: Benzodiazepine (Schlafmittel).
"Das Abhängigkeitspotenzial ist viel zu groß. Zum andern leidet die Koordination, das Sturzrisiko wächst. Für ältere Menschen: lebensgefährlich!"
Prof. Hans Jürgen Heppner
Seit 2010 gibt es für Ärzte und Ärztinnen, für Apotheken, für Pflegeberufe, aber auch für Laien eine Liste mit Wirkstoffen, die für ältere Menschen problematisch sein können – die sogenannte PRISCUS-Liste. Sie wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung herausgegeben in allgemein verständlicher Art und Weise. Eine Forschungsgruppe um Prof. Petra Thürmann erstellt diese Liste. Erst vor kurzem wurde sie aktualisiert und erweitert.
"Die alte Priscus-Liste aus dem Jahr 2010 hatte etwas über 80 Wirkstoffe - und die neue Priscus-Liste hat gut 170 verschiedene Wirkstoffe. Das hört sich jetzt natürlich sehr dramatisch an, liegt aber daran, dass wir vor zehn Jahren tatsächlich überwiegend Medikamente untersucht haben, die auf das Nervensystem wirken. Und jetzt wendet sich die Priscus-Liste fast an alle Medikamentengruppen."
Prof. Petra Thürmann
65-jährige Personen in Deutschland nehmen im Mittel vier verschiedene Wirkstoffe pro Tag ein. In der Gruppe der 75- bis 80-Jährigen liegt die Zahl bereits bei sechs bis neun verschiedenen Arzneimitteln, also verschiedenen Wirkstoffen pro Tag.
"Da muss man ständig Wechselwirkungen auf der Spur sein. Und man muss im Prinzip bei jedem Medikament überlegen, ob das nicht geradezu zufällig eine Nebenwirkung macht, die wir mit einem der anderen neuen Medikamente eigentlich nur behandeln. Also das Risiko ist immer größer oder wird immer größer, dass wir fast nur noch Medikamente gegen die Nebenwirkungen verordnen und dann entsprechend einnehmen."
Prof. Petra Thürmann
Hinter der Priscus-Liste steckt aber auch ein Appell der Expertin:
"Es ist nicht unbedingt immer nur die Liste alleine, sondern was mir sehr am Herzen lag, ist, dass wir generell viel mehr den Blick auf die Probleme von älteren Menschen mit ihren Medikamenten legen und das viel mehr betonen müssen, als das vor zehn Jahren der Fall war. Und dass wir ein anderes Bewusstsein dafür entwickeln müssen, dass wir auch bei Menschen im Alter von 80 plus Medikamente einsetzen, die an 50- oder 60-Jährigen getestet wurden."
Prof. Petra Thürmann
Die Zahl der Erkrankungen nimmt mit zunehmendem Alter deutlich zu und damit ebenso deutlich die Anzahl der verordneten Arzneimittel in einer Vielzahl von Fachgebieten. Im Falle einer solchen Polymedikation hilft nur die gegenseitige Kenntnis der diversen Verordnungen vom einen Facharzt zur anderen Fachärztin. Hilfreich dazu: ein Medikationsplan, den sich alle Patienten und Patientinnen in den behandelnden Hausarzt-Praxen erstellen lassen können.
"Dort funktioniert das schon ganz gut und automatisiert, wogegen es in der Regel in den Krankenhäusern an entsprechender Software mangelt. Und von der elektronischen Patientenakte, die alle Daten beinhalten würde, sind wir noch weit entfernt. Natürlich sollte jeder einzelne sich um die Aktualisierung eines solchen Medikationsplanes auch kümmern, da ist schon auch die Eigenverantwortung der Patienten und Patientinnen gefragt."
Prof. Hans Jürgen Heppner
Im vergangenen Jahr warnte die Deutsche Herzstiftung, dass sich unter den durch die Klimakrise zunehmend heißen Temperaturen die Wirkung verschiedener Medikamente verändert. So müssten blutdrucksenkende Medikamente eventuell - auf jeden Fall jedoch in Absprache mit dem Arzt oder der Ärztin - reduziert werden, wie Betablocker, ACE-Hemmer, Sartane und Calciumantagonisten. Denn Wärme verstärkt die blutdrucksenkende Wirkung von Medikamenten. Auch die Gabe von Diuretika, also Entwässerungsmitteln, sei zu prüfen: Denn, so die Herzstiftung, Patienten mit Herzschwäche und gerade ältere Menschen dürfen nicht noch mehr Flüssigkeit verlieren, als sie das ohnehin durch das vermehrte Schwitzen tun. Wärme verstärkt ebenfalls die entwässernde Wirkung von Medikamenten. Mit Folgen wie Schwindel, Kreislaufproblemen, Verwirrtheit.
"Diese Hitze-Ereignisse stellen gerade für ältere Menschen ein großes Problem dar. Da stehen wir auch in der Geriatrie vor neuen Herausforderungen."
Prof. Hans Jürgen Heppner
Alte Menschen sind in der Forschung zu Arzneimitteln viel zu wenig vertreten. Bis in die späten 1990er Jahre hatte man sie gar nicht mit in Studien einbezogen. So wie Frauen Medikamente schlucken, die an Männern erprobt wurden, werden alten Menschen Wirkstoffe verordnet, die an jungen Menschen erforscht wurden.
"Seit den letzten zehn, fünfzehn Jahren wandelt sich das zum Glück deutlich. Aber trotzdem sind ältere Menschen nach wie vor benachteiligt. Nicht einmal jede Universitätsklinik hat auch einen Lehrstuhl für Geriatrie. Wir hier in Erlangen sind eine von den nur fünfzehn Universitäten, die sich überhaupt mit dem Thema Altersmedizin beschäftigen. Und wir sind die einzigen, die sich zwei Lehrstühle leisten - einen klinischen Lehrstuhl und ein Forschungsinstitut."
Prof. Hans Jürgen Heppner