Nürnberg, Fürth, Coburg Südstadt - wie schön du bist!
Was macht das Flair einer Südstadt aus und warum haben manche Städte eine Südstadt, andere nicht? Petra Nacke erkundet drei fränkische Südstädte, trifft Menschen, die dort leben und nähert sich so dem Phänomen Südstadt.
Eigentlich ist es ganz einfach: Das Stadtzentrum liegt in der Mitte einer Stadt, die Südstadt eben im Süden. Im vermeintlich allwissenden Wikipedia sind deutschlandweit 28 Südstädte gelistet, zwei davon in Bayern: Nürnberg und Fürth. Doch auch die Bezeichnung Coburger Südstadt findet sich gelegentlich.
Die Nürnberger Südstadt
Südstädte haben viele Gesichter, mal sind sie grau, mal bunt, mal schrill, mal idyllisch – aber immer scheint die Südstadt etwas sehr Eigenes zu sein. So wie in Nürnberg. Umso mehr überrascht es, dass es eigentlich gar keine Nürnberger Südstadt gibt.
"Es gibt keine Gemarkung Südstadt, es gibt Galgenhof, Steinbühl, Gibitzenhof, Hummelstein, Tafelhof, das ist ja schon Bahnhofsgebiet. Also das sind die Gemarkungsbezeichnungen. Die Gemarkung Südstadt gibt´s nicht."
Herrmann Weichselbaum, Amt für Stadtplanung und Stadterneuerung
Herrmann Weichselbaum vom Amt für Stadtplanung und Stadterneuerung steht vor einem großen Plan und deutet auf das Gebiet, das gemeint ist, wenn die Nürnberger von der Südstadt sprechen. Also es gibt sie, die Nürnberger Südstadt, wenn auch nicht auf dem Stadtplan. Südstadt scheint mehr ein Gefühl zu sein. Dem will ich nachspüren und starte am Südausgang des Bahnhofs.
Beton statt Bäume
Schnell wird es laut. Nürnberg wurde, wie die meisten deutschen Städte, nach dem Zweiten Weltkrieg als Autostadt geplant und wiederaufgebaut. Doch was in der Zeit des Wirtschaftswunders noch als Zeichen für Fortschritt und Wohlstand galt, ist heute zur Plage geworden. Der überschaubare Grünstreifen zwischen Celtis-Tunnel und Fußgängerunterführung deutet einen Park an, scheint aber nicht wirklich für Menschen gemacht worden zu sein – hier, parallel und quer zu den Bahngleisen, herrscht unübersehbar die Infrastruktur.
Ein steiniges Herz im Zentrum der Südstadt
Dann erreiche ich den Aufseßplatz, das Zentrum der Südstadt. Wenn es auch ihr Herz ist, dann ist es ein sehr steiniges. Ein hüfthoch eingezäunter Kinderspielpatz, drei Banken, ein Discounter, ein Café, ein Kiosk, ein U-Bahnausgang. Zwischendrin ein paar krakelige Bäume, ein Brunnen und – eine Standuhr, die etwas verloren aussieht. Hier bin ich mit Susanne Lang, alias Susi Südstadt verabredet, einer echten Südstadtpflanze.
Es gibt wenig Menschen, auf die die Bezeichnung Lebenskünstlerin besser zutrifft wie auf Susanne Lang. Schauspielerin, Kabarettistin, Sängerin, Autorin. Seit Neuestem gibt sie erfolgreich Jodelkurse, und immer wieder erfindet sich Susi Südstadt neu. Heute ist sie meine Stadtteilführerin. Vor uns liegt ein großes graublaues Gebäude – ein leerstehendes Kaufhaus – wie ein gigantischer Dinosaurier, den irgendwer erlegt und einfach liegengelassen hat. Aber es ist kein Dinosaurier, den wir sehen.
"Das ist der Schocken, sagen alle immer noch, obwohl es den schon gar nicht mehr gibt, das war inzwischen Kaufhaus Horton, Kaufhaus Merkur, Kaufhof Galeria und wie sie alle heißen, und jetzt steht es schon seit einigen Jahren leer. Ja, da war – ich hab noch ein Foto – innen so eine kleine Reitbahn, so wie auf dem Volksfest, mit Ponys. Und da konnte man unten drin reiten und Mutti ist zum Einkaufen gegangen im ersten Stock. Das prägt natürlich schon."
Susi Südstadt
Wir überqueren die Landgrabenstraße zum Kopernikusplatz. Susi zeigt mir den Darius und den Marius, zwei Pizzerien, die sowohl verwandtschaftliche Beziehungen haben, als wohl auch Institutionen in der Südstadt sind. Wir spitzen in den Hinterhof des freien und nichtkommerziellen Radiosenders Radio Z und wundern uns über die seltsamen Öffnungszeiten des Ladens, der unter dem Namen "Gutes von gestern" verkauft und um Punkt 5.58 Uhr öffnet.
Ehrenamtliches Engagement rettet das Casablanca-Kino
Aus heiterem Himmel ergießt sich ein Sommerregen über uns und wir flüchten in die Hofeinfahrt des legendären Casablanca-Kinos. Das Casablanca sollte vor ein paar Jahren endgültig geschlossen werden – es sei nicht mehr lukrativ genug, hieß es von Seiten des Betreibers. Doch so einfach wollten sich die Südstädter ihr geliebtes "Casa" nicht nehmen lassen und gründeten kurzerhand einen Rettungsverein – schon wegen der vielen Erinnerungen, die daran hängen.
Der Tante-Emma-Laden von Ursula Höhn
Man ist sich einig, dass wir unbedingt noch zu Frau Höhn in der Voltastraße müssen, die sich mit ihrem kleinen Feinkostgeschäft tapfer gegen die Discounterketten behauptet. Hier, weiter im Süden, wird es ruhiger, es gibt Bäume und ab und an sogar ein kleines Rasenstück. Im kleinen Tante-Emma-Laden von Ursula Höhn fühlt man sich augenblicklich in eine andere Zeit versetzt – oder an einen anderen Ort, auf jeden Fall in eine andere Welt. Hier ist es ruhig. Die Stille umgibt einen fast ebenso greifbar wie all die Dinge des täglichen Bedarfs, die sich in Regalen, Kisten und Frischetheken präsentieren. Kühltruhen summen dezent und selbst die Pakete, die Ursula Höhn für einen Kunden angenommen hat, stapelt sie so ruhig und konzentriert, als hätte Hektik hier keinen Zutritt. Ihr Geschäft bezeichnet sie als Nachbarschaftsmarkt mit Frischeanteil und es ist offenkundig für sie weit mehr als ein Arbeitsplatz.
"Ich hab das Geschäft von meinen Eltern übernommen und ich glaub, ich geh jetzt an die 30 Jahre, seit meiner Ausbildung eben, aber im Grunde genommen bin ich hier reingeboren. Das ist eben so typisch, wenn man's von Generation zu Generation übernimmt, dann wirst du von klein auf mit eingebunden. Ob das jetzt irgendwelche Kisten aufräumen, zusammenkehren oder irgendwelche Sachen nach Hause tragen am Anfang – ja, das war einfach so. Du bist da dabei, ob du willst oder net."
Ursula Höhn, Inhaberin eines kleinen Feinkostgeschäftes
Ursula Höhn wirkt so verwurzelt mit der Südstadt wie der Baum vor ihrem Geschäft, doch der Eindruck täuscht. Sie wäre gern woanders, gesteht sie.
"Ja, ich glaub, ich wäre da sogar erfolgreicher, weil, die Südstadt ist zwar schön, wenn man hier aufgewachsen ist, aber wir haben einkommensschwache Familien hier und einen hohen Ausländeranteil hier. Und ein Türke geht nicht in ein deutsches Geschäft. Also die kommen zu mir, wenn ich irgendwas ganz billig hab oder weil sie was vergessen haben, aber nicht speziell zu mir, das ist eher die Ausnahme. Und deswegen glaube ich, dass ich woanders unter Umständen vielleicht sogar glücklicher wär als hier."
Ursula Höhn, Inhaberin eines kleinen Feinkostgeschäftes
Nachdenklich schlendern wir zurück zum Aufseßplatz und ich bitte Susi Südstadt, mir jetzt, nach all unseren Stationen zu beschreiben, was Südstadt für sie bedeutet.
"Südstadt ist Leben, buntes, gemischtes Leben. Und Südstadt ist eigentlich ein Zeichen für den Wandel – den Wandel im Leben und den Strukturwandel und überhaupt den Wandel."
Susi Südstadt
Die Fürther Südstadt
Mit der U-Bahn geht's nach Fürth. Wieder gehe ich zum Südausgang des Bahnhofs. Treppauf geht es direkt in die Ludwigstraße. Der erste Blick fällt auf Dutzende von Fahrrädern, die hier geparkt wurden und bunt im Sonnenlicht glitzern. Es ist trocken, heiß und ein bisschen verschlafen. Ein Stadtteil hält Siesta. Mit etwas Phantasie könnte man sich vorstellen, dass gleich hinter der nächsten Ecke das Meer kommt, ein palmenbestandener Platz, vielleicht auch ein orientalischer Souk.
Ein ganz eigener Charakter
Die Ludwigstraße südwärts passiere ich eine türkische Bäckerei, eine Autowerkstatt aus deren weit geöffneten Toren russische Sprachfetzen herüberwehen, eine Shisha-Bar. Eine Eckkneipe hat ein paar Tische und Stühle auf die Straße gestellt. Vom türkischen Obst- und Gemüseladen gegenüber grüßen ein paar aufgeschnittene Wassermelonen in leuchtendem Rot, aus einem Friseurladen schwappt Musik in die Mittagshitze. Die Atmosphäre hier unterscheidet sich deutlich von der der Innenstadt. Genau wie in Nürnberg besitzt auch die Fürther Südstadt ein ausgeprägtes Eigenleben, einen ganz eigenen Charakter. Und das liegt am Bahnhof, sagt eine, die es wissen muss.
"Weil dieser Bahnhof - 1865 war das - vor der Südstadt gebaut wurde. Mit diesem Bahnhof, mit der Strecke nach Würzburg, wurde Fürth an das überregionale Eisenbahnnetz angebunden und hat damit in der wirtschaftlichen Entwicklung einen großen Schub gemacht, was ja dann auch den neuen Stadtteil Südstadt nötig machte. Und die Eisenbahn mit ihren vielen Strängen trennte von Anfang an – da ja der Stadtteil erst später kam - von der Innenstadt ab, es gibt zwei Unterführungen, also nur durch zwei Nadelöhre ist die große Südstadt an die Innenstadt angebunden, und das ist sichere der Grund, weshalb die Südstädter ein so ausgeprägtes Eigenständigkeitsbewusstsein entwickelt haben."
Barbara Ohm, Historikerin
Barbara Ohm wird mich ein Stück des Wegs durch die Südstadt begleiten. Die Historikerin war lange Zeit Stadtheimatpflegerin in Fürth. Viele Fürther haben durch sie gelernt ihre Stadt von ganz anderen Seiten zu sehen – und manchmal vollkommen Unbekanntes entdeckt. Wir gehen die Amalien- bis zur Kreuzung Simonstraße entlang. An der Ecke steht eine Kirche, die hier vollkommen überdimensioniert wirkt, aber gerade durch ihre Größe von einem wichtigen Teil der Fürther Südstadtgeschichte erzählt.
"Die Kirche ist so groß, weil sie für einen wachsenden Stadtteil gebaut wurde und vor allem auch für die Soldaten in den angrenzenden Kasernen. Da waren tausende von Soldaten da, und für die wurden beide Südstadt-Kirchen mitgebaut."
Barbara Ohm, Historikerin
Fürth wächst um 300 Prozent – zwischen 1864 und 1914
Zwischen 1864 und 1914 erlebte die Stadt Fürth einen Bevölkerungszuwachs von knapp 300 Prozent und das nicht nur, weil sie in dieser Zeit zur Garnisonsstadt wurde, sondern auch wegen der Industrialisierung.
"Wir sind jetzt im östlichen Teil der Südstadt, in dem sich viele große Fabriken niedergelassen hatten. Hier war die größte und bedeutendste Spiegelfabrik in Fürth – Spiegel waren ja die wichtigste Branche der Industrialisierungszeit, die ja wirklich in alle Welt exportiert wurden, und die Arbeiter, die damals ja noch sehr lange Arbeitszeiten hatten, und es gab ja auch noch keinen ausgeprägten öffentlichen Nahverkehr, wollten natürlich in der Nähe der Fabrik wohnen, und deshalb hat man hier auch sehr viele einfache Wohnungsbauten gemacht, wie wir es hier sehen, wo man auch den billigeren Backstein schon in der Fassade verwandt hat. Und aufgrund der vielen Glasarbeiten – Glasbeleger, Glasschleifer, Glaspolieren und so weiter – hat dieses Viertel auch den Namen Glasscherbenviertel bekommen."
Barbara Ohm, Historikerin
Barbara Ohm biegt in eine kleine Gasse ein, die Kornstraße, die sie mir unbedingt zeigen will, weil hier alles so ganz anders gemacht worden sei als im "Glasscherbenviertel".
"Diese Straße gehört in die Wohnungsreformbestrebungen vor dem ersten Weltkrieg, wo man von der Mietskaserne Abschied nehmen wollte, wo man wieder eine Nachbarschaft haben wollte, in der Mitte der Straße rücken die Häuser etwas aus der Baulinie und es wurde ein kleiner Platz geschaffen, ein Platz für Begegnungen, für nachbarschaftliche Gespräche. Das Erstaunliche dabei ist, dass der Bauunternehmer, der diese Straße bauen ließ, nicht nur diese neuen Ideen aufgenommen hat, sondern sie auch an die Bevölkerungsschicht vermietet hat, die sich sonst eigentlich so etwas nicht leisten konnte."
Barbara Ohm, Historikerin
Ein Stadtteil im Umbruch
Allein geh ich zurück und denke nach über die verschiedenen Zeiten, deren Ideen und Notwendigkeiten, die das Gesicht und das Wesen der Fürther Südstadt immer wieder umgestaltet haben. Es gibt sehr viele Baustellen hier, die Fürther Südstadt scheint schon wieder im Umbruch zu sein. Wohin geht die Entwicklung wohl dieses Mal? Wie fühlt es sich für die Bewohner an?
Der Geist der Südstadt
Ein Mann fragt mich, ob ich etwas suche. Ja, sag ich: den Geist der Südstadt. Er lacht und winkt mir, näher zu kommen. Sein Name Ist Manfred Ozman. Sein Vater war Türke, die Mutter Deutsche. Ist er typisch für die Südstadt?
"Eigentlich ja, also ich fühl mich zumindest typisch für die Südstadt, da es mein Pflaster hier ist. Seit jetzt knapp 43 Jahren eigentlich. Seit meiner Geburt an."
Manfred Ozman
Wir sitzen plaudernd auf den Stufen eines türkischen An-und Verkauf-Ladens. Ab und zu geht jemand vorbei, man kennt, man grüßt sich. Er würde, sagt Manfred Ozman, nirgendwo anders wohnen wollen als hier. Warum, möchte ich wissen.
"Hm, da ist viel mehr Leben in der Südstadt. Nicht wie in Dambach oder außerhalb, das ist für mich so wie ein Kaff, also ich würde da – nach ner Stunde würd's mir langweilig werden. Hier haste ein Trouble – gerade die Straße hier ist das Nadelöhr zur Südstadt. Jeder, wo vom Bahnhof rausgeht, muss hier vorbeigehen – also, du siehst hier so viele Leute quer durch. Ich hab vorher auf Hausnummer 100 gewohnt, das ist schon wieder abseits und das ist mir zu ruhig. Und dann bin ich in derselben Straße abwärts umgezogen auf die Hausnummer 12. Du hast das komplette Programm da unten, also langweilig wird's dir nie."
Manfred Ozman
Doch dann, als hätte sich eine Wolke vor die Sonne geschoben, erzählt er mit besorgtem Gesicht vom alten Brauereigelände in der Schwabacher Straße.
"Da ist jetzt ein Klaviergeschäft drin, also, ich möchte wissen, wer sich hier ein Klavier leisten kann, hier in der Südstadt, oder wer überhaupt Platz in seiner Bude hat für ein Klavier. Dann wie gesagt einen Ebl haben sie da auch reingebaut und lauter teure Luxuswohnungen, aber schon alles verkauft. Bevor die Bauten fertig waren, war schon alles verkauft, also muss es Leute geben, die wo das Geld dazu haben."
Manfred Ozman
Nachdenklich schaut er sich um in der Ludwigstraße, "seiner" Straße.
"Naja, also die ganzen alten Bauten sind alle abgerissen worden. Da bauen sie teure Luxuswohnungen, die wo sich im Endeffekt ein Südstädtler, wo ein ursprünglicher Südstädtler ist, der wo ganz normal malochen geht, und seine, was weiß ich, 1.500 Flocken verdient, gar nicht mehr leisten kann. Also so ne Neubauwohnung da zahlst du für 90 Quadratmeter 1.000/1.200 Euro Miete. Also wollen sie eigentlich eine ganz andere Gesellschaft hier anlocken. Also vermischt sich das. Und so – das sind zu krasse Unterschiede zwischen den Gesellschaften. Und dass die dann nicht miteinander klarkommen, ist mir klar."
Manfred Ozman
Die Coburger Südstadt – gibt es sie überhaupt?
An einem Dienstagvormittag auf dem Coburger Marktplatz. Fachwerkhäuser, Springbrunnen, Cafés, Kopfsteinpflaster, die alles überragende Statue von Prinz Albert von Sachsen-Coburg und Gotha und – eine Blaskapelle. Davor Menschen an Bierbänken unter Sonnenschirmen, die sich gut zu amüsieren scheinen. Hier möchte ich die dritte Südstadt besuchen, von der in einigen Internettexten die Rede ist, aber erst einmal muss ich sie finden.
Mit dem Stadtplan in der Hand stehe ich auf dem Marktplatz. Wo die Südstadt ist, weiß ich noch nicht so genau. Vielleicht haben die Coburger gar keine Südstadt? Ich spreche einen Herrn an, der schwer beladen auf mich zukommt. Ich frage ihn nach der Coburger Südstadt.
"Die Coburger Südstadt? Hm, normalerweise ist das die Ketschenvorstadt. Das ist praktisch jetzt hoch auf den Marktplatz und dann die Gasse, die rechts runtergeht, also oben an der Hofapotheke die Gasse runter. Das ist dann die Südstadt, glaub ich? Ist ja klar, ist ja Richtung Süden, ist ja Süden, logisch! Dann muss es auch die Süd – manche sagen halt auch Ketschenvorstadt, aber die haben jetzt so ein neues Ding, also Südstadt – hm? Keine Ahnung – dann wohn ich ja praktisch auch in der Südstadt? Komisch!"
Ein Coburger
Wir gehen ein Stück gemeinsam die Gasse hinunter, schon nach wenigen Metern sind wir da. Ich schaue mich um auf dem Albertsplatz, dem frisch sanierten Herz der Coburger Südstadt. Eigentlich ist es hier kaum anders als oben auf dem Marktplatz: Fachwerk, Brunnen, Cafés – nur die Blaskapelle fehlt. Umso größer ist der Unterschied zum Aufseßplatz, dem steinernen Herz der Nürnberger Südstadt. Liegt das nur an der Dimension? Immerhin ist Nürnberg mehr als zehnmal so groß wie Coburg?
Hypnotische Ruhe
Ich setze mich auf einen der Steinquader, die überall auf dem Platz verteilt sind, und spüre der Atmosphäre nach. Hier geht es gemächlich zu. Selten fährt ein Auto vorbei, eine junge Frau blättert in einem Buch, ein älteres Paar trinkt Kaffee, ein Herr mit kariertem Sommerhut führt seinen Dackel aus. Die Ruhe hat etwas Hypnotisches und wird nur vom Brunnengeplätscher und ab und zu von der automatischen Durchsage an der Bushaltestelle durchbrochen. Im Süden, jenseits des Ketschentors, im Rosengarten, werde ich Winfried Züger treffen, den ehemaligen Dekan der Stadt. Auf ihn bin ich durch einen Zeitungsartikel über die Coburger Südstadt gestoßen, aber gibt es die tatsächlich?
"Die gibt es in dem Sinne sicher nicht, weil Südstadt, als solche, ist den Coburgern so gar nicht bewusst, gar nicht bekannt. Die Südstadt ist ein bisschen, in Anführungsstrichen, ein besseres Viertel, wenn man so will, nicht? Rosengarten, die Villen dort, das Kongresshaus – ja, das macht schon etwas her – und die Villen, die weiter vorne standen, am Ausgang aus der Stadt, aus der Stadt raus. Ja: Südstadt ist: man verlässt Coburg nach Süden."
Winfried Züger, ehemaliger Dekan in Coburg
Eine Straße wie aus dem Modellbaukasten
Es liegt also nicht nur an der Größe, sondern auch an der besonderen Lage von Coburg, dass es hier keine Südstadt im Sinne von Fürth oder Nürnberg gibt. Der Coburger Süden würde sich entwickeln, sagt Züger, und nach und nach zu etwas ganz Neuem werden. Und das will er mir zeigen. Wenige Schritt vom Rosengarten entfernt, nur ein paar Ecken weiter, stehen wir an einer seltsamen Straße.
"Wir sind jetzt am Eck in der Brose-Straße, die ursprünglich anders hieß, aber nach langem Hin und Her hat der Gründer, also hat Herr Stoschek es geschafft, dass eine Straße seinem Großvater gewidmet wurde: Die Max-Brose-Straße, dem Gründer dieses ganzen großen Imperiums Brose."
Winfried Züger, ehemaliger Dekan in Coburg
Die Straße wirkt wie aus dem Modellbaukasten oder, als hätte sie ein Architekt am Computer geplant und eins zu eins in die Welt projiziert. Alles ist rechtwinklig, symmetrisch, korrekt – sogar die Bäume scheinen maßstabsgetreue Vergrößerungen von Plastik-Attrappen zu sein – oder sind wir angesichts dieses Imperiums nur auf die Größe von Spielzeugmännlein in einer Modellbauwelt geschrumpft?
"Wir sind auf der neuen Brücke über die Itz hinüber in das Bahngelände, das einmal das große, neue Gebiet, der neue Stadtteil in Coburg wird mit Globe und Band der Wissenschaft, um die Forschung und alles Mögliche - die Studenten mit an die Stadt heranzuführen."
Winfried Züger, ehemaliger Dekan in Coburg
Das Globe soll den Süden der Stadt beleben
Auf der Brache vor den Bahngleisen, die hier nicht den Süden vom Norden trennen, sondern den Westen vom Osten, dümpelt ein kleiner, weißer Bagger zwischen Wildkräutern, Gestrüpp, einem überschaubaren Kieshaufen und zusammengestellten Absperrgittern vor sich hin.
"Da soll das Globe hinkommen. Noch gar nicht vorstellbar, dass da einmal kulturelles Leben – und heftiges Leben – herrschen wird. Eigentlich noch unvorstellbar."
Winfried Züger, ehemaliger Dekan in Coburg
Das Globe, das hier einmal stehen soll und das seinen Namen und die zylindrische Form vom berühmten Shakespeare Theater am Südufer der Themse in London entlehnt hat, war eigentlich nur als Zwischenspielstätte für das renovierungsbedürftige Landestheater gedacht. Jetzt wird geplant, es dauerhaft stehen zu lassen, um den Süden der Stadt zu beleben.
"Gehen wir mal ein bisschen rein: In diesen alten Hallen - Bahnhallen, Güterhallen, was immer das auch war, macht die Hochschule immer wieder ganz tolle Ausstellungen, Präsentationen hier hinein, um dieses Gelände so langsam in die Stadt runter zu holen und auch zu zeigen, schaut einmal her: wir sind mitten in der Stadt und das gehört in die Stadt rein – ja, auch eine tolle Sache. Diesen Salonwagen von Mitropa hat irgendjemand hierher geschafft mit der Idee, da ein Café, eine Begegnungsstätte reinzubauen, aber er steht seit der Zeit da und verfällt zusehends. Mal sehen, was aus diesem Wagen, diesem Mitropa-Wagen einmal wird."
Winfried Züger, ehemaliger Dekan in Coburg
Ein Gabelstapler mit zwei Säcken Kies fährt vorbei in Richtung einer weißen, kuppelförmigen Zeltkonstruktion, die an ein überdimensioniertes Iglu erinnert. Die Aufbauarbeiten für die Coburger Designtage, ein Rodeo und zwei Hochzeiten, erklärt uns der Fahrer, und komplimentiert uns ebenso freundlich wie bestimmt fort von der Baustelle –Verletzungsgefahr.
Der Coburger Süden entsteht neu
Ohne die Uni mit ihren rund 5.000 Studenten würde etwas ganz Wichtiges fehlen, sagt Winfrid Züger am Schluss unseres Rundgangs durch den neuen, den entstehenden Coburger Süden. Die Stadt würde schlafen, würde sich wieder zur Ruhe begeben.
Die Südstadt – Ort des Wandels und der Erneuerung
Ich gehe wieder zurück durch den Rosengarten und denke über die drei Südstädte nach, die ich besucht habe. Über die Südstadt als Zeichen und Ausdruck des steten Wandels. Die Südstadt auch als Ort der Erneuerung – nicht immer zum besseren, wenn man die Menschen, die dort wohnen, nicht mitnimmt. Und ich denke bei Coburg an ein schlafendes Dornröschen, das darauf wartet behutsam wach geküsst zu werden.